„Die arabischen Menschen sind erfüllt von einem Gefühl der Machtlosigkeit. Sie sind durchdrungen von der Überzeugung, dass die Araber keine Zukunft haben. Dieses Gefühl wird immer wieder genährt durch den Blick der anderen, des Westens, so dass es kein Entkommen gibt.“ Der libanesische Historiker und Journalist Samir Kassir hat 2004 in seinem Essayband „Araber sein“ gnadenlos die politische und intellektuelle Stagnation der arabischen Welt gegeißelt. Schonungslos beschreibt er, was die Unterdrückung durch die eigenen, mediokren Regime mit den Menschen macht, wie sie eine psychologische Malaise produziert bis hin zum Selbsthass.
Und Kassir analysiert, wie das Gefühl der Ohnmacht potenziert wird durch den Westen, der bis heute durch die Unterstützung Israels und die Besetzung Iraks die Region dominiert.
„Das Gefühl, dass du nur ein einsamer Bauer auf dem globalen Schachbrett bist, obwohl das Spiel in deinem Hinterhof stattfindet.“ Ein Jahr später hat Kassir noch mitbekommen wie die Libanesen ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen und mit Massendemonstrationen nach dem Mord an Ex-Premier Rafiq Hariri die Ordnungsmacht Syrien aus ihrem Land vertrieben. Doch den Aufstand der Jugend von Tunesien über Ägypten bis Jemen hat er nicht mehr erlebt: Im Juni 2005 wurde der prominente Syrien-Kritiker in Beirut ermordet.
Die arabische Malaise, die Kassir beschreibt, entlädt sich derzeit in einem machtvollen Ausbruch des Zorns. Neben steigenden Preisen und fehlenden Arbeitsplätzen ist es vor allem das Verlangen nach Respekt und Würde, das die jungen Leute befeuert. Dies verbindet die Menschen in den arabischen Ländern, die sich in Regierungsformen, vorherrschenden Ideologien und auch sozialer Lage stark unterscheiden. Die Umstürze im Ostblock, mit denen die Ereignisse in der arabischen Welt heute gerne verglichen werden, hatten die arabischen Länder nicht berührt. Sie blieben weiter am Rand der Weltgeschichte hocken.
Doch der Funke aus Tunesien sprang überraschenderweise innerhalb von Tagen nach dem Sturz von Präsident Ben Ali über. Heute rufen die Menschen im Jemen, das einen Kontinent entfernt liegt, „Tunesien ist die Lösung“ – in Anspielung auf den allgegenwärtigen Slogan der Islamisten, „Der Islam ist die Lösung“. Libanesen demonstrieren vor der ägyptischen Botschaft in Beirut für den Abgang von Präsident Hosni Mubarak. Es geht erstmals seit Jahrzehnten nicht gegen Israel oder dessen Schutzmacht, die USA, oder dessen Invasion im Irak. „Es geht um uns“, wie ein Demonstrant in Tunis sagte. Und darin schwingt ein ganz neues Selbstbewusstsein mit. Der Pan-Arabismus ist zwar längst totgesagt. Aber es gibt eine arabische Identität, die sich neben Kultur, Religion und Sprache auf gemeinsame historische und aktuelle Erfahrungen stützt und ein Band zwischen den 230 Millionen Arabern knüpft …
Hier lesen Sie den gesamten Beitrag von Andrea Nüsse im TAGESSPIEGEL vom 31.01.