Der Ruf nach Freiheit und Demokratie, wie er plötzlich in Tunesien und dann millionenfach noch lauter auf dem Tahrir-Platz in Kairo zu hören war, ist gewiss aufrichtig und echt. Der Hass der Massen richtete sich nicht nur gegen Ben Ali und Mubarak, sondern gegen das ganze System mit einem Diktator an der Spitze…
„Muhabarat“ nennt sich auf arabisch der Inlandsgeheimdienst. Der füllt die Gefängnisse mit politischen Gefangenen, foltert, lässt Menschen spurlos verschwinden. Dann gibt es noch die Armeen als machterhaltende Stützen der jeweiligen Diktatoren. In demokratischen Ländern wird zwischen Militär und üblicherweise dem Innenminister unterstehenden Polizeikräften, darunter auch halbmilitärischen Einheiten wie Bundesgrenzschutz oder „Bundespolizei“ genannten Truppen unterschieden. Soldaten als Polizisten einzusetzen oder gar Panzer mitten in Kairo gegen Demonstranten auffahren zu lassen, widerspricht allen Grundsätzen eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates.
Die Begeisterung westlicher Medien über die „Neutralität“ der ägyptischen Armee und Szenen der Verbrüderung von Soldaten mit Demonstranten sind problematisch, solange niemand fragt, wer eigentlich die Soldaten mit ihren Panzern zum Tahrir-Platz befohlen hatte. Grundsätzlich ist Mubarak der Oberkommandierende. Sowie Generale eigenwillig Befehle erteilen und sich gar in die Innenpolitik ihres Landes einmischen, ist der Weg zum Militärputsch nicht mehr weit.
Der Ruf nach Freiheit ist in den letzten hundert Jahren in der arabischen Welt weiter verbreitet gewesen, als vermutet. Im Sudan zum Beispiel, dem südlichen Nachbarn Ägyptens, haben zwei Millionen Menschen mit ihrem Leben dafür gezahlt und weitere Millionen wurden zu Flüchtlingen, um den Schergen des muslimischen Regimes in Khartum und seinen sogenannten „Reiterbanden“ zu entgehen. Inzwischen konnte eine Umfrage durchgesetzt werden. Fast ausnahmslos stimmten den Menschen im nicht-muslimischen Süden des Landes für eine Abtrennung vom Norden und die Errichtung eines neuen Staates. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die des Genozid verdächtigen Herrscher des Sudan zustimmen, den ölreichen Süden in eine nationale Selbstbestimmung zu entlassen.
Die arabische Welt umfasst 22 Länder, hinzu kommen noch islamische Länder wie Iran, Afghanistan, Pakistan und Indonesien. Wirklich demokratisch ist keine dieser Monarchien oder Diktaturen, auch wenn es Parlamente und Wahlen gibt. In Syrien zum Beispiel gewann Baschar Assad zuletzt die Wahlen mit 97,62 Prozent der Stimmen. Doch selbst unter diesem Regime, das sich mit Notstandsgesetzten an der Macht hält, gab es schon Aufstände und „Rufe nach Freiheit“, etwa der syrischen Moslembrüder in Hama. Bei den „Vorfällen“ in der uralten 1982 weitgehend zerstörten Stadt wurden bis zu 40.000 Menschen getötet, 15.000 gelten bis heute als vermisst und etwa 100.000 mussten fliehen. Das hatte Hafez el Assad getan, der Vater des heutigen Präsidenten. Die Welt hatte von diesen „Zwischenfällen“ kaum Kenntnis genommen. Ähnlich spielten sich die sogenannten „Lagerkriege“ in Flüchtlingslagern Sabra und Schattila mit Tausenden Toten im Libanon ebenso wie andere Massaker weitgehend fern des öffentlichen Interesses im Westen ab. (Allein das unter den Augen israelischer Soldaten von christlichen Falangisten verübte Massaker an etwa 700 Menschen in Sabra und Schattila löste eine gebührende Empörung in aller Welt aus, nicht wegen der Zahl der Toten, sondern weil Israel dafür verantwortlich war.) Einen Ruf nach Freiheit mit sehr blutigem Ausgang gab es 1970 im Haschemitischen Königreich Jordanien. Die Palästinenser bilden eine Mehrheit von mutmaßlich 70 Prozent, doch das Königshaus, die tscherkessische Leibwache und die Beduinenarmee unterdrückten den von einem gewissen Jassir Arafat geleiteten Volksaufstand mit aller Härte. In jenem „schwarzen September“ gab es geschätzte 10.000 Tote. Ähnlich wie heute in Ägypten hielten die Amerikaner „um der Stabilität Willen“ zu dem „gemäßigten“ König Hussein. Wäre es Arafat gelungen, in Jordanien eine „palästinensische Republik“ einzurichten, würde die Welt heute anders über das „Palästina-Problem“ reden …