Die Mittelschicht demonstriert gegen den ungezügelten Kapitalismus im Land. Das Problem von Premier Netanjahu: Nichts deutet auf ein Abflauen der Proteste.
So etwas hat es in Israel lange nicht gegeben: Der Nahost-Konflikt ist derzeit fast völlig von der Bildfläche verschwunden. Die hiesigen Medien haben kein anderes Thema mehr als die Demonstranten, die soziale Gerechtigkeit einfordern. Samstagabend zählte man im ganzen Land mehr als 150.000 Protestierende. Es ist eine Rebellion der schweigenden Mehrheit, die die Regierenden daran erinnert, dass es im Land noch andere dringliche Themen gibt als den Streit um Siedlungsbau, die möglichen Konsequenzen eines von der UN akzeptierten Palästinenserstaates oder das Waffenarsenal der Hisbollah im Süden Libanons.
Die relative Ruhe innerhalb des Landes und an den Grenzen mögen ebenso wie die Ferienzeit dazu beitragen, dass sich so viele Israelis plötzlich auf ihre wirtschaftlichen Lebensbedingungen besinnen. Von ihrem Staat, für den sie als fleißige Steuerzahler, Wehrdienstleistende und Reserviste viel tun müssen, fordern sie etwas ein. Die vom Abstieg bedrohte Mittelklasse erteilt ihrem Premier Benjamin Netanjahu eine Lektion. Denn seine Koalition, wie im übrigen auch andere Regierungen zuvor, hat vor lauter Nahost-Konflikt vergessen, wie man echte Innenpolitik betreibt.
Jedenfalls eine, die nicht bloß auf der Verteilung von Geld an verschiedene Gruppierungen besteht, um deren Zustimmung für ihre Mitgliedschaft in der Regierung zu gewinnen. Davon haben bislang meist die Ultraorthodoxen und die Siedlerbewegung profitiert. Noch aber hält sich die Protestbewegung zurück, solche Zusammenhänge herzustellen. Nur vereinzelt sieht man Plakate, die explizit für mehr Wohnungen in Israel und nicht jenseits der Grünen Linie, also im Westjordanland, plädieren. So sehr sich manche Linke wünschten, diese politische Dimension stärker zu artikulieren, fürchten andere, der überwältigende neue Konsens der säkularen Mittelschicht könnte dadurch ins Wanken geraten.
Die historische Innenstadt von Tel Aviv ist zum Camping-Platz geworden. Jeden Tag stehen ein paar mehr Zelte da, und das nicht mehr nur auf dem Rothschild-Boulevard, der schönen Flaniermeile mit ihren schicken Cafés und Restaurants in originaler Bauhausarchitektur. Hier begann vor zwei Wochen, was sich mittlerweile zu einer nationalen Protestbewegung ausgeweitet hat, der sich auch die arabischen Bürger des Staates angeschlossen haben.
Studenten protestierten hier zunächst gegen die horrenden Mietpreise in der Stadt und das Fehlen von jeglichem Mieterschutz. Anfangs gab es noch Diskussionen darüber, ob es sich nicht eher um verwöhnte Kinder handelte, die auf ein Recht pochten, das ihresgleichen ja auch anderswo nicht per Dekret zustünde: Denn wer könne es sich schon leisten, in der Pariser oder New Yorker Innenstadt zu leben! Aber schnell wurde klar, dass deren grundsätzliche Klage nicht nur berechtigt ist, sondern auch von vielen anderen geteilt wird. „Die Regierung hat das Rückgrat der Gesellschaft zu lange vernachlässigt“ sagte der Schriftsteller Meir Shalev. Er war vor wenigen Tagen mit anderen Autoren und Künstlern zum Rothschild-Boulevard gekommen, in dessen Nähe gerade Tausende von Müttern und jungen Eltern einen Marsch der Kinderwagen initiiert hatten. Auf einem Aufkleber stand: „Was nützt uns Sicherheit, wenn wir kein Geld für Betreuung haben“.
In den Abendnachrichten werden seither täglich die Lebensbedingungen einzelner Israelis ausgebreitet, mit deren Schicksal sich viele identifizieren. Es werden auch Preise von Produkten aus dem Supermarkt – Windeln, Flaschenmlich oder Nutella – mit ihren Pendants im Ausland verglichen, um dann festzustellen, dass sie dort nur einen Bruchteil kosten. Plötzlich fragen sich immer mehr Israelis laut, wie es sein kann, dass es gut ausgebildete erwachsene Paare mit anstrengenden Vollzeitjobs kaum schaffen, die eigene Familie über Wasser zu halten. Der Zorn richtet sich gegen die hohen und in letzter Zeit zudem noch unverhältnismäßig gestiegenen Lebenshaltungskosten, die sich nur durch Abzockerei infolge eines ungezügelten Kapitalismus erklären lassen. Das ist der Grund, warum sich der Zorn jetzt gegen die Regierung wendet.
Premier Benjamin Netanjahu hat die Sogkraft dieses Protestes der Mittelschicht durchaus erkannt, sonst hätte er vorige Woche nicht eine geplante Polenreise abgesagt. Aber die neuen Wohnprojekte, die er bisher in einer fulminant inszenierten Pressekonferenz versprochen hat, kommen spät und greifen viel zu kurz. Gefordert wird eine echte Umstrukturierung der Prioritäten.
Lesen Sie einen Artikel von Gisela Dachs bei ZEIT ONLINE vom 01.08.2011.