Wenn um sie herum Regime stürzen, dann muss es auch möglich sein, über eine neue Sozialpolitik zu reden. So scheinen Hunderttausende Israelis zu denken. Ministerpräsident Netanjahu hat es schwer mit ihnen.
Unweit vom Verteidigungsministerium in Tel Aviv hängt noch ein Überbleibsel von der Demonstration am Samstag. „Haut ab“, steht auf dem Plakat, das sich an die Obrigkeit wendet. Zunächst steht es da auf Arabisch, der Aufruf auf Hebräisch folgt darunter. Ganz offensichtlich ist der Appell ein Zitat. Die soziale Bewegung in Israel, die nach dem Schabat in Tel Aviv gut 250.000 Menschen auf die Straße brachte, orientiert sich bisher an den Protesten in den arabischen Ländern. Die Demonstranten in Tel Aviv nahmen den Rhythmus der Parolen auf, wie sie seit Monaten in Kairo, Tunis oder in syrischen Städten zu hören sind. Aber die Israelis fordern nicht den „Sturz“ ihrer demokratisch legitimierten Regierung. Sie verlangen „soziale Gerechtigkeit“.
Der Unmut gegen die Verteuerung des Lebens sei langsam gewachsen, sagt der Kolumnist Gil Yaron. Vor drei Monaten begannen die Proteste wegen der hohen Benzinpreise, die zu 60 Prozent Steuern sind – und schliefen bald wieder ein. Dann kam der Hüttenkäse-Boykott, der plötzlich fast doppelt so teuer war wie drei Jahre vorher oder wie in Deutschland. Zunächst belächelten die Zeitungen den Internet-Protest – aber die Regale blieben voll. Erst wenn der Käse fünf Schekel koste, werde man zuschlagen, wurde im Internet beschlossen. Das staatlich subventionierte Milchprodukt wurde daraufhin billiger: Zwei Packungen gibt es jetzt für 10 Schekel. Der Protest hatte sich also gelohnt.
„Ganz Israel soll umdenken“
Am Samstag gingen in Tel Aviv gut 250.000 Menschen auf die Straße
Daraufhin zogen Studenten auf den Rothschild-Boulevard von Tel Aviv, eine feine Adresse, und ließen sich aus Protest gegen hohe Mieten in Zelten nieder. Es wurden immer mehr: „Seitdem das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung dank der Umbrüche in der arabischen Welt vorbei ist, wurde dieser Protest zum Modell und zur Massenbewegung“, erklärt Gil Yaron: „Nun wagt ganz Israel die Nabelschau.“ Wie der Student Schmuel Itzik, der am Samstag bei der Demonstration eine Rede hielt, bauen die Massen in Israel aber anders als die arabischen Demonstranten keine Feindbilder auf.
„Uns geht es nicht um den Sturz der Regierenden. Wir wollen andere Prioritäten in der Politik.“ Oppositionschefin Zipi Livni hat sich bei keiner Demonstration blicken lassen, und „das ist auch gut so“, findet Itzik. „Wir sagen auch nicht, wo die Regierung sparen soll. Wir fordern nicht das Ende des Siedlungsbaus oder die Kürzung der Stipendien für die Ultraorthodoxen“, setzt Itzik fort; „denn dann würde unsere Bewegung Feinde bekommen. Ganz Israel soll aber umdenken“.
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Mitglieder der Friedensgruppen demonstrieren zwar mit, aber sie tun es diesmal nicht für die Palästinenser: „Erstmals streiten wir nicht gegen etwas oder für andere; wir kämpfen für uns selbst“, sagt Ezra Cohen, der einmal bei „Frieden Jetzt“ aktiv war. Er erinnert daran, dass vor mehr als einem Jahrzehnt eine arbeitslose alleinerziehende Mutter in ihrer Not einen Protestmarsch vom Landesinneren nach Jerusalem unternahm. „Damals zogen ein paar hundert mit. Heute wären das zehntausend.“
Auch die Rentner gehen auf die Straße
Der durchschnittliche Monatslohn liegt bei umgerechnet etwa 1800 Euro. Lehrer und Sozialarbeiter verdienen in der Regel weniger als 1400 Euro. Für viele ist der Kaffee zur Mittagspause im Café längst Luxus, vom Kinobesuch zu schweigen. Ein Student muss für ein Anderthalb-Zimmer-Apartment (unrenoviert, ohne Aufzug oder Parkplatz) 1200 Euro Miete zahlen. Gemeinhin werden in Israel allerdings Wohnungen gekauft. Eine unrenovierte 40 Jahre alte Mittelklassewohnung von 100 Quadratmetern kann in Tel Aviv 600.000 Euro kosten. Die Demonstranten, zu denen auch Ultraorthodoxe mit ihren kinderreichen Familien gehören, fordern geringere Mieten, niedrigere Steuern, eine Erhöhung des Mindestlohnes auf 50 Prozent des Durchschnittsgehalts oder kostenlosen Zugang zu Bildung. Die Aufgebrachten verlangen ferner kleinere Klassen in den Schulen, eine verbesserte medizinische Versorgung, die Einhaltung des Arbeitsrechtes und bezahlbare Plätze im Kindergarten.
Ärzte protestierten auf einer eigenen Kundgebung dagegen, dass ihr Stundenlohn derzeit bei nur etwa acht Euro liege. Am Sonntag gingen die Rentner auf die Straße, solidarisierten sich mit den Studenten und wehrten sich gegen drohende Privatisierungen. Demonstrationen der israelischen Araber aber gab es bisher nicht: „Die trauen sich in diesem Klima nicht“, sagt Gil Yaron. Immerhin hätten sich jetzt aber in Jaffa jüdische und arabische Bürger gemeinsam dafür eingesetzt, den Wohnraum nicht völlig an die Spekulanten zu verlieren und „für Normale bezahlbar zu halten“.
Netanjahu findet die Antworten nicht
Die Regierung sah zunächst weg. Ministerpräsident Netanjahu wollte nicht mit den Demonstranten sprechen. Er hält sich zugute, dass der Staat nicht nur Geld in die Siedlungen und das Militär steckt, sondern auch in staatliche Monopolbetriebe, die er eigentlich zerschlagen und privatisieren will. So verdient der Arbeiter im Staatshafen das Dreifache vom Kollegen im Privatbetrieb. Ähnliches gilt für Löhne in staatlichen Militär- und Industriekonzernen. Der Gewerkschaftsbund Histadrut war denn auch anfangs nicht auf Seiten der Demonstranten. Chef Ofer Eini fand vielmehr, er werde keiner Bewegung nützen, „einen demokratisch gewählten Ministerpräsidenten zu erniedrigen und zu stürzen. Wir sind nicht in Ägypten oder Syrien.“ Jetzt sagt Eini: „Die Arbeiter im ganzen Land sind untrennbarer Teil der mittleren und unteren Klassen. Sie vertreten alle Schichten.“
So schlossen sich am Samstag Histadrutler den Massen an und skandierten: „Was ist die Antwort auf Privatisierung? Revolution!“ Eini hatte noch bei der Regierungsbildung 2009 Generalstabschef Gabi Aschkenazis unterstützt, der den Militärhaushalt zulasten der Sozialausgaben stabilisieren wollte. Nun jongliert er. Auch deshalb hat es Netanjahu schwer, die richtigen Antworten auf die Proteste zu finden und durchzusetzen.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: AFP, dapd
Hier finden Sie den Originalartikel vom 09. August 2011 in der FAZ.