Von Najem Wali
Der Unterschied zwischen Boualem Sansal und seinen Schriftstellerkollegen in der arabischen Welt besteht – auf den Punkt gebracht – darin, dass er das sakrosankteste Tabu der modernen arabischen Geschichte gebrochen und die Glorie der Unabhängigkeitsbewegung angekratzt hat. So gut wie ausnahmslos besingen arabische Autoren den Befreiungskampf gegen die Kolonialherrschaft; nach wie vor gelten Persönlichkeiten wie Gamal Abdel Nasser oder der einstige algerische Staatschef Boumedienne – und bis vor kurzem auch Saddam Hussein und Muammar Ghadhafi – den arabischen Feuilletons als «Nationalhelden», obwohl sie diktatorisch und autoritär regierten.
Gewiss: Zahlreiche arabische Romane erzählen von Korruption und Unrecht, und etliche wagen auch direkte Kritik an den diktatorischen Regimen. Aber nur eine Handvoll Autoren, darunter Sansal, haben die Unabhängigkeitsbewegungen und insbesondere deren Beziehungen zum Faschismus und Nationalsozialismus hinterfragt – etwa das freundschaftliche Verhältnis des Muftis von Jerusalem zum Nazi-Regime und seinen Besuch in Berlin, wo er von Hitler persönlich empfangen wurde, oder die Allianz des irakischen Ministerpräsidenten Raschid Ali al-Kilani mit dem nationalsozialistischen Deutschland und das Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung von Bagdad am 1. und 2. Juni 1941. Auch die Verbindungen der algerischen Revolutionäre zu deutschen Nationalsozialisten blieben ein Tabuthema. Wer darüber zu schreiben wagt, muss entweder ein Sympathisant der Juden sein oder nach dem Literaturnobelpreis schielen – denn gemäss der unter arabischen Intellektuellen gängigen Auffassung ziehen die Juden auch bei der Vergabe dieser Auszeichnung die Fäden. All dies ist nicht neu; neu ist lediglich, dass sich ein arabischer Autor gegen die offiziöse patriotische Heuchelei immunisiert und das Totgeschwiegene ausgesprochen hat.
Im Roman «Das Dorf des Deutschen» erzählt Boualem Sansal von einem ehemaligen Nazi, der zur Zeit des Unabhängigkeitskriegs nach Algerien emigriert und dem seine Teilnahme am Befreiungskampf in dem Dorf, wo er sich niedergelassen hat, grossen Respekt einträgt. Erst nach seiner Ermordung durch militante Islamisten im Jahr 1994 erfahren seine beiden Söhne von der Vergangenheit des Vaters und vom Holocaust – ein Thema, das die Bewohner des Dorfes nie interessiert hat. Und sowenig es das «revolutionäre» Dorf kümmerte, dass ein Nazi in seinen Reihen kämpfte, so gleichgültig scheint es heute dem algerischen Publikum zu sein, dass das Dorf, von dem Sansal im Roman erzählt, tatsächlich existiert. Denn niemand möchte braune Schatten auf den Mythos des algerischen Befreiungskampfes fallen sehen; im Land der «Million Märtyrer», wie Algerien sich gerne nennt, ist dieses Thema tabu.
So erstaunt es auch nicht, dass Sansals Roman noch zornigere Reaktionen provozierte als der offene Brief, den der Autor 2006 in Gestalt des schmalen Bändchens «Postlagernd: Algier» an seine Landsleute gerichtet hatte. Der Sturm, den jene kritische Abrechnung mit der Nation hervorrief, hatte sich wenigstens auf Algerien beschränkt; mit «Das Dorf des Deutschen» hingegen brachte Sansal die gesamte arabische Intelligenzia gegen sich auf. Denn gegen Autoren, die über den Holocaust und die Juden schreiben und obendrein kein Hehl aus ihren Zweifeln an einem Nationalismus machen, der den arabischen Gesellschaften nichts als Zerstörung, Elend, Krieg und Tod gebracht hat, wird unweigerlich der Boykott ausgerufen. Werden sie nicht gleich der Kollaboration mit Israel bezichtigt, rechnet man ihnen zumindest vor, was sich Israel gegenüber den Palästinensern und insbesondere in Gaza zuschulden kommen liess; Boualem Sansal wurde zudem vorgeworfen, dass er sich auf einen Einzelfall fixiert habe, um die Gegenwart nach seinem Geschmack umzuschreiben. Sansals Warnung, dass die Araber mit dem Totschweigen solcher Einzelfälle auch den Gang in eine «verminte Zukunft» riskierten, verhallte ungehört.
Totgeschwiegen
Mit Ausnahme der algerischen Zeitungen, denen die Verleihung des Friedenspreises an Sansal neue Munition gegen den Schriftsteller verschaffte, wurde die Ehrung in den arabischen Medien weitestgehend ignoriert – als wäre schon die Nominierung für einen Friedenspreis ein Verstoss gegen die arabische Ehre. Um wie viel mehr hätte man sich gewünscht, dass die Verleihung des Friedenspreises an diesen Autor in der arabischen Welt als Signal verstanden worden wäre – als Aufforderung zur Lektüre seiner Werke und als Ermutigung für die heranwachsende Schriftstellergeneration, tabuisierte Themen mit ähnlicher Courage wie Boualem Sansal anzugehen.
Der irakische Schriftsteller Najem Wali lebt seit 1980 in Deutschland im Exil. Im Frühling 2011 erschien sein Roman «Engel des Südens» im Hanser-Verlag. – Aus dem Arabischen von as.
Najem Wali der NZZ vom 15.10.2011
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Boualem Sansal erhält Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Der algerische Autor Boualem Sansal (62) ist am Sonntag in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Die Nachrichtenagentur dpa dokumentiert Auszüge aus seiner Dankesrede nach dem Wortlautmanuskript.
(…) „Im Kontext der heutigen Zeit ist dies (die Verleihung des Friedenspreises) eine rührende, eine aufmunternde Geste, denn sie zeugt davon, dass Sie sich dafür interessieren, wie wir Völker des Südens versuchen, uns vom Joch unserer bösartigen und archaischen Diktaturen zu befreien, in dieser arabisch-muslimischen Welt, die einst ruhmreich und tatkräftig war, nun aber schon so lange verschlossen und erstarrt ist, dass wir schon vergessen haben, dass wir Beine haben und einen Kopf, und dass man auf seinen Beinen stehen und gehen und laufen kann, oder auch tanzen, wenn einem der Sinn danach steht, und dass man mit seinem Kopf jenes unvorstellbar Zauberhafte tun kann, nämlich sich eine Zukunft ersinnen und diese dann auch leben, hier, in der Gegenwart, in Frieden, in Freiheit, in Freundschaft. (…)
Die Dankesrede im Wortlaut, erschienen bei HR online am 16.10.2011