Zehn Monate nach Beginn der Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, die Hosni Mubaraks Rücktritt erzwungen haben, beginnen die ersten Mehrparteienwahlen in Ägypten. Für viele Beobachter stellen diese Wahlen einen Wendepunkt in der modernen Geschichte des Landes dar und einen wichtigen Schritt in der Übergangsphase von einer autoritären Militärdiktatur zu einem demokratischeren System.
Unter Mubarak waren Wahlen bestenfalls ein Ventil, um steigende Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu kanalisieren und die Opposition zu neutralisieren. Doch die Euphorie der ersten Revolutionsmonate ist einer breiten Skepsis gewichen. Damals galt der Oberste Militärrat als Hüter der Revolution und als Schutzschild der Demonstranten, die von den inneren Sicherheitsdiensten, bezahlten Schlägertrupps sowie der extrem unbeliebten Polizei angegriffen wurden. Noch im Februar und März wurde bei politischen Veranstaltungen und Treffen routinemäßig dem „Militär des Volkes“ für seine Rolle gedankt. Die Situation heute sieht anders aus. Die Revolution blieb an der Oberfläche und ist unvollendet. Der Militärrat hat das Notstandsrecht, mit dem Mubarak die legale Opposition ausgehebelt hat, verlängert und erweitert. Er ist in den letzten zehn Tagen dem wiederkehrenden Protest auf dem Tahrir-Platz mit brutaler Gewalt entgegen getreten. 41 Menschen verloren ihr Leben , über 2000 wurden verletzt. Statt die zivile Justiz zu stärken, fanden seit Februar 12.000 Verhandlungen vor Militärgerichten statt oder sind anhängig. Kritiker des Militärrats wurden seit Juni eingeschüchtert, verhaftet, sowie in Gefängnissen misshandelt. Am 30. Oktober wurde der bekannte ägyptische Blogger Alaa Abd al Fattah, der noch Anfang Oktober die arabische Blogger Konferenz in Tunis mit organisierte, wegen seiner Kritik an dem gewaltsamen Vorgehen des Militärs gegen überwiegend christliche Demonstranten vor dem Maspero Gebäudeam 9. Oktober, verhaftet.
Auch die zweite Säule der ägyptischen Protestbewegung, die unabhängigen Gewerkschaften und Arbeitervereinigungen wurde in ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit stark eingeschränkt. Streiks wurden verboten und Proteste untersagt.
In dieser Atmosphäre scheint bestenfalls unklar, ob die Wahlen ein politisches System hervorbringen können, dass in der Lage sein wird, demokratische Kontrolle über die Sicherheitskräfte auszuüben. Das Wahlsystem ist an verwirrender Komplexität kaum zu überbieten.
Die Einzelheiten legen die Überlegung nahe, dass hier demokratische Kontrolle durch autoritäre Bürokratie erstickt werden soll.
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Lesen Sie einen Lagebericht (28.11.) von Joachim Paul, Heinrich Böll Stiftung.
Mehr zur Lage in Ägypten bei www.tagesschau.de vom 2.12.2011.