Israel und das gefährliche iranische Roulette

von Clemens Wergin.

Iran angreifen oder nicht? Israel fürchtet, dass die Zeit zu Handeln bald abläuft. Das Land selber kann nur zusehen, wie sich das Drama der arabischen Revolutionen entfaltet.

Man kann sich Israel auch als glückliches Land vorstellen. Das ehemalige Entwicklungsland im Nahen Osten hat die Wirtschaftskrise gut überstanden, hat eine beneidenswert niedrige Arbeitslosenrate, weist robuste Wachstumzahlen auf und hat Europa beim Pro-Kopf-Einkommen fast erreicht.

Es verfügt heute über eine der härtesten Währungen der Welt und über eine der innovatisten High-Tech-Szenen. Wenn, ja wenn da nicht die lieben Nachbarn wären. Und ein Teil der Bevölkerung, der sich weder an den Verteidigungs- noch Steuerlasten beteiligt und auch sonst kaum etwas zur boomenden Wirtschaft beiträgt. Willkommen in der israelischen Realität.

Eingekreist von einer islamistischen Welle

Jedes Jahr kommen bei der Sicherheitskonferenz in Herzlija Experten aus der ganzen Welt zusammen und messen die Temperatur der kränkelnden Nahostregion. Und die ist diesmal besonders hoch. Die Israelis sehen sich eingekreist von einer islamistischen Welle, die immer mehr arabische Länder erfasst.

Dazu kommt das iranische Atombombenprogramm, das, so viele Fachleute, in diesem Jahr in die entscheidende Phase eintritt. „Wir befinden uns im Auge eines Sturms“, sagt etwa der israelische Generalstabschef Benny Gantz.

Seine Liste möglicher Herausforderungen, auf die sich das Militär einstellen muss, reißt gar nicht mehr ab. Libanon und Gaza seien zu den größten Waffenlagern geworden, die man je gesehen habe. Jeder Teil des Landes werde inzwischen von Raketen bedroht. Und die Israelis haben besonderen Respekt vor den Antitank-Raketen der Terroristen, die inzwischen „präzise aus einer Distanz von 6 Kilometern“ treffen könnten.

Der Leiter des Militärgeheimdienstes, Aviv Kochavi, sagt, dass Israels Feinde inzwischen über 200.000 Raketen verfügten. Die meisten davon hätten nur eine Reichweite von etwa 40 Kilometern, einige tausend könnten aber mehrere 100 Kilometer weit fliegen.

Besonders im Südlibanon seien Waffenlager und Raketenstartplätze massenhaft in Wohnhäusern eingerichtet worden, was Israel im Falle eines Krieges vor schwierige Herausforderungen stellen würde.

Sinai-Halbinsel – Eine gesetzlose Region

Neben einer Konfrontation mit irregulären Kräften muss Israel sich aber nun auch im Süden wieder auf eine Konfrontation mit einer großen regulären Armee vorbereiten. Denn wer weiß schon, ob die Islamisten in Kairo am Friedensvertrag festhalten werden.

Ohnehin ist die Sinai-Halbinsel schon so etwas wie eine gesetzlose Region geworden, mit Radikalen von Hamas oder al-Qaida, die Israels Grenzen zu infiltrieren suchen, um im Land gegen Zivilisten loszuschlagen.

Letztlich können die Israelis nur zuschauen, wie sich um sie herum das Drama der arabischen Revolutionen entfaltet. Beeinflussen können sie diese Entwicklungen nicht. „Das ist keine israelische Angelegenheit, sondern eine arabische Angelegenheit“, sagt Israels Präsident Schimon Peres. „Aber das Ergebnis wird Auswirkungen auch auf Israel haben.“

EU-Außenminister beschließen Öl-Boykott gegen Iran

Kaum ein Thema hält die Sicherheitsexperten aber so in Atem wie der Iran, den Peres als eins der „moralisch korrumpiertesten Regime der Welt“ bezeichnet. In Herzlija gab es einerseits viel Lob für das europäische Öl-Embargo, andererseits große Skepsis, ob das Teheran umstimmen wird, wenn es nicht gleichzeitig mit einer glaubwürdigen militärischen Drohung verbunden ist.

Diese lieferte denn auch prompt Verteidigungsminister Ehud Barak, der warnte, dass die Zeit auslaufe, weil Iran seine Urananreicherungsanlagen in neu gebaute Bergbunker verlege. „Wer immer nur ,später‘ sagt, wird möglicherweise herausfinden, dass später zu spät ist“, sagte Barak und wiederholte es noch einmal auf Englisch um sicher zu gehen, dass die Botschaft auch ankommt.

Politiker martialischer als Militärs und Experten

Militärgeheimdienstchef Aviv Kochavi präzisiert den Zeitrahmen: Wenn Religionsführer Ali Chamenei den Befehl gäbe, könne der Iran innerhalb von einem Jahr eine Bombe bauen. Es werde ein bis zwei weitere Jahre dauern, bis auch die Raketenrägersysteme dafür fertig seien.
Sanktionen gegen Iran

Aussagen wie die Baraks machen Amerika und Europa stets nervös. Und letztlich bleibt unklar, ob diese israelischen Botschaften allein darauf ausgerichtet sind, den Westen zu entschlossenerem Handeln zu bewegen und die Iraner von Israels Ernsthaftigkeit zu überzeugen, oder ob man in Jerusalem wirklich handeln will.

Möglicherweise trifft eine Mischung aus beidem zu. Es war jedenfalls auffällig in Herzlija, dass die Politiker weit martialischer auftraten als die Militärs und andere Experten. Auch deshalb, weil im Iran zum ersten Mal in den fast zehn Jahren des Atomstreits die Folgen der Sanktionen spürbar werden.

Die Maßnahmen gegen den iranischen Finanzsektor scheinen langsam zu greifen und die Führung in Teheran wird ob der dramatischen Abwertung des Rial zunehmend nervös. In der vergangenen Woche gab es sogar Berichte über einen Sturm auf eine iranische Bank, weil die Bürger ihr immer schneller wertlos werdendes Geld in materielle Güter anlegen wollen.

„Zu viele Lücken im Bereich der Finanzwirtschaft“

Andererseits weitet Teheran seine Bemühungen aus, die Sanktionen zu umgehen. Irans Revolutionsgarden, die laut Schätzungen inzwischen 20 bis 30 Prozent der iranischen Wirtschaft kontrollieren, haben ganze Wirtschaftszweige darauf ausgerichtet, die Sanktionen zu umgehen.

„Es gibt noch immer zu viele Lücken im Bereich der Finanzwirtschaft“, sagt etwa David Nordell, ein Experte für illegale Finanzströme. „Bisher war Dubai einer der Standorte für Irans illegale Finanzaktivitäten. Inzwischen wird das aber auch über die Türkei abgewickelt.“

Für den amerikanischen Außenpolitikexperten Robert Blackwill liegt jedenfalls auf der Hand, dass „die europäische Bereitschaft, die Sanktionen substanziell zu verschärfen in einem direkten Zusammenhang mit der israelischen Bereitschaft steht, miltärische Gewalt einzusetzen“. Ohne diese im Raum stehende Drohung wären die Europäer wohl nicht so weit gegangen.

Die überwiegende Mehrheit der israelischen Experten plädiert dafür, nun erst einmal abzuwarten, ob die sich verschärfende Wirtschaftskrise im Iran zu einer Neubewertung der Kosten-Nutzen-Rechnung in Teheran führt, weil die Sanktionen inzwischen die Stabilität des Regimes gefährden.

Es ist das, was man im Englischen ein „Game of Chicken“ nennt: Beide Seiten rasen auf einen Abgrund zu, vergewissern einander, man werde auf jeden Fall im Auto sitzen bleiben und hoffen, dass der andere am Ende zuerst rausspringt.

Ausdehnung der subversiven und destabilisierenden Aktionen

Die Israelis setzen sich jedenfalls intensiv mit der Frage auseinander, ob es denkbar wäre, einen nuklear bewaffneten Iran abzuschrecken falls Israel sich entscheiden sollte, die Nuklearanlagen nicht anzugreifen. Die meisten Experten sind sich einig, dass ein direkter Einsatz der Bombe gegen Israel nicht sehr wahrscheinlich, aber gleichzeitig mit einem hohen Risiko behaftet wäre für die Existenz des Staates.

Wahrscheinlicher ist, dass Iran seine subversiven und destabilisierenden Aktionen in der Region und darüber hinaus ausdehnen wird, weil der Nuklearschirm Schutz vor Vergeltungsaktionen schafft. Und die Gefahr eines versehentlichen Nuklearkriegs würde erheblich steigen. Denn nach dem Iran würde sich als erstes auch der Machtkonkurrent am Golf, Saudi-Arabien, eine Bombe verschaffen.

Die Saudis haben laut Aussage vieler Fachleute ein Abkommen mit den Pakistanis, weil sie beim Aufbau des dortigen Atomprogramm geholfen haben. Mehrere Szenarien wären möglich: Pakistan hilft den Saudis beim Aufbau eines eigenen Atomprogramms. Oder sie verkaufen eine fertige Bombe an den Partner.

Denkbar ist auch, dass die Pakistanis ihre eigenen Atomwaffen auf saudischem Boden stationieren, ähnlich wie es die Amerikaner in Europa getan haben.

Gerade in Europa glauben viele, ein atomar bewaffneter Iran ließe sich per Abschreckung eindämmen, wie es dem Westen ja auch mit der weit mächtigeren Sowjetunion gelungen ist. Nach dem Motto: Was man nicht verhindern kann oder will, muss man akzeptieren.

Schon einmal nur knapp an einem Atomkrieg vorbei

Tatsächlich ist die Welt aber in der Kubakrise nur sehr knapp an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt. Und die Frage ist, ob die Iraner mit dem paranoiden Weltbild ihrer Führer in Krisensituationen tatsächlich ausrechenbar sein würden. Zumal man es sehr bald nicht mehr mit zwei atomar bewaffneten Akteuren zum tun haben würde, sondern mit einer „Perlenkette“ von Atommächten, die wahrscheinlich von der Türkei bis nach Nordkorea reichen würde.

„Amerikanische Sicherheitsgarantiengarantien würden nicht ausreichen, um einen polinuklearen Mittleren Osten zu verhindern“, glaubt Shmuel Bar, Direktor für strategische Studien in Herzlija. Und das würde die Gefahr versehentlicher Atomkriege stark erhöhen.

Man muss sich nur vorstellen, einer der dann vielen benachbarten Atomstaaten aktiviert in einer Krisensituation seine Atomstreitkräfte. Das würde in allen Staaten jener „Perlenkette“ ebenfalls zu Aktivierung führen. Und dann kann eine falsche Radarmeldung oder ähnliches ein Armaggedon auslösen.

Schon wegen der räumlichen Nähe bliebe auch weit weniger Zeit als es die Supermächte hatten, um Fehleinschätzungen noch rechtzeitig zu korrigieren.

Erfahrungsgemäß brauchen verfeindete Staaten wie etwa Indien und Pakistan 15 bis 20 Jahre um nuklear „sozialisiert“ zu werden. Erst dann haben die Konkurrenten Analysefähigkeiten und Handlungsprotokolle sowie Kommunikationskanäle entwickelt, um eine atomare Eskalation zu verhindern. Das Problem, so viele Israelis, sei, diese ersten 15 Jahre zu überleben. Iranisches Roulette.

Überraschender Siegeszug der Islamisten

Was die arabischen Revolutionen anbelangt, so kann man in Herzlija beides erleben: abgrundtiefen Pessimismus, aber auch Hinweise auf neue Chancen für Israel. Salman Shaik jedenfalls vom Brookings Centre in Doha warnt vor zu schnellen Schlüssen. „Das kann man nicht nach nur 12 Monaten beurteilen, solche Veränderungen benötigen eine Generation und mehr“.

Ihn jedenfalls hat der Siegeszug der Islamisten nicht überrascht. Schließlich seien die meisten Araber sehr fromm, sozial konservativ und marktwirtschaftlich eingestellt. Er sagte aber voraus, dass Gewalt und Chaos noch eine Zeit anhalten würden. Den Israelis riet er, endlich eine positive Einstellung zu diesen Veränderungen zu finden.

Das ist leichter gesagt als getan. Schon deshalb, weil Israel so isoliert ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. „Israelische Journalisten können nicht mal mehr nach Ägypten fahren und mit den Leuten auf dem Tahrir-Platz reden“, sagt Smadar Perry, die bei der Tageszeitung Jediot Acharonot verantwortlich für die Nahostberichterstattung ist.

Auch israelische Touristen reisten nicht mehr ins Nachbarland, weil die ägyptischen Behörden ihre Sicherheit nicht mehr garantieren können. Selbst in Herzlija war diese Isolation zu beobachten.

So sagte Yasser Abed Rabbo, Berater von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, seine Teilnahme ab und der als Friedensfreund bekannte jordanische Prinz el-Hassan bin Talal, der per Video aus Amman zugeschaltet wurde, bekannte, dass Freunde und Familienmitglieder ihm davon abgeraten hätten, vor der Konferenz zu sprechen. Niemand will sich den Vorwürfen der Islamisten aussetzen, mit dem israelischen „Feind“ zu kooperieren.

Erfolgreiche Syrien-Revolution wäre schwer für den Iran

Andererseits wäre ein Erfolg der Revolution in Syrien ein herber Schlag für den Iran. Es verlöre nicht nur den einzigen arabischen Verbündeten, sondern auch die Landbrücke zu seinem Klienten im Libanon, der Terrororganisation Hisbollah.
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Arabische Liga stoppt Beobachtermission

Die hat erheblich an Ansehen verloren, weil sie das mörderische Regime von Baschar al-Assad weiter stützt und wird nach dessen Sturz erhebliche Schwierigkeiten haben, sich neu zu orientieren.

Genau das lässt sich schon bei der palästinensischen Terrororganisation Hamas beobachten. Die war bisher ebenfalls abhängig von Unterstützung aus Teheran und Damaskus. Weil sie sich weigerte, sich hinter Assad zu stellen ist diese Beziehung merklich erkaltet. Inzwischen hat der Auslandschef der Hamas, Khaled Meschal, Damaskus verlassen und schaut sich nach neuen Verbündeten um, etwa in Ägypten und der Türkei.

Angesichts der Bedrohungen von außen und des Umbruchs in Nahost sind die Konflikte innerhalb der israelischen Gesellschaft, die im vergangenen Jahr aufgebrochen sind, besonders besorgniserregend. Es kursiert ein bitterer Witz über die Lastenverteilung im Land: „Ein Drittel der Bevölkerung arbeitet, ein Drittel der Bevölkerung zahlt steuern und ein Drittel geht zur Armee. Leider handelt es sich jeweils um dasselbe Drittel.“

Das Problem: Die Bevölkerungsteile, die am wenigsten ins Arbeitsleben integriert sind – orthodoxe Juden und arabische Israelis – bekommen am meisten Kinder. Das verlagert das demographische Gewicht auf lange Sicht hin zu den unproduktiveren Teilen der Bevölkerung.

Eine „Frage der Solidarität“

Ein Zustand, der kaum lange aufrecht zu erhalten sein wird. Armeechef Benny Gantz fand denn auch deutliche Worte in Richtung der Orthodoxen. Es handele sich um eine „Frage der Solidarität“, die Last werde nur von wenigen getragen. Es sei nicht weiter akzeptabel, dass „die Volksarmee nur von der Hälfte des Volkes getragen werde“.

Wenn man die von düsteren Prognosen verhangenen Konferenzräume von Herzlija verlässt und in der israelischen Wintersonne durch das boomende Herz Israels fährt, wo ständig neue Wolkenkratzer, Wohnungen und Bürokomplexe entstehen, glaubt man, man sei einem Albtraum glücklich entronnen.

Es ist schwer, das äußerst erfolgreiche und moderne Israel zusammenzudenken mit seiner ständigen Bedrohtheit. Und so geht es auch vielen Israelis. Das Leben muss ja irgendwie weitergehen.

Das Original finden Sie in der Zeitung DIE WELT vom 3. Februar 2012.

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