Die Ausschreitungen extremistischer jüdischer Siedler im Westjordanland eskalierten Ende 2011. Nicht nur gegen Palästinenser gingen sie vor, sondern sogar auch gegen die israelische Armee auf einem ihrer Stützpunkte. Mehrheitlich verurteilen Regierung, Opposition und Öffentlichkeit Israels die Aktionen der Radikalen. Das Problem ist aber schwer lösen, unter anderem weil es historische Wurzeln hat, die bis in die Zeit vor der Gründung des jüdischen Staates reichen.
Von Dominik Peters und Marcus Mohr
In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 2011 eskalierte der Nahostkonflikt wieder einmal. Aber nicht zwischen Palästinensern und Israelis, sondern unter Israelis selbst. Radikale Siedler griffen die Armee direkt an. Rund 50 Aktivisten drangen in den Hauptstützpunkt der Infanteriebrigade »Ephraim« im nordwestlichen Westjordanland in der Nähe der illegalen Kleinsiedlung »Ramat Gilad« ein, verwüsteten den Eingangsbereich der Basis und lieferten sich Rempeleien mit den Soldaten. Als der stellvertretende Kommandeur der Brigade, Oberst Tzur Harpaz, am Ort des Geschehens eintraf, verletzten ihn die Randalierer mit einem Steinwurf leicht. »Sie brachen das Tor mit Gewalt auf und schlugen auf alles ein, das in ihrer Reichweite war, warfen Steine und Farbtöpfe, zerstachen Reifen«, berichtete ein Augenzeuge. »Noch bevor die Polizei kam, waren sie schon wieder weggerannt. Nach zwanzig Minuten war alles schon wieder vorbei.«
Nur ein paar Stunden zuvor und rund 50 Kilometer weiter im Osten war eine weitere Gruppe in den militärischen Sperrbereich vor der Grenze zu Jordanien eingedrungen, um einen neuen illegalen »Außenposten« zu errichten. 17 Siedler, unter ihnen der bekannte Aktivist Meir Bartler, stürmten den Grenzzaun östlich von Jericho, verschanzten sich in einem leer stehenden Klostergebäude und erklärten es zum »Fort Zeev« – benannt nach Zeev Jabotinsky, einem rechtsnationalistischen Zionisten aus der Zeit vor der Staatsgründung Israels. In der selben Nacht schafften es zudem mehr als 70 Ultra-Orthodoxe, in das Josephgrab nahe Nablus einzudringen, wobei ein Chasside durch einen Schuss eines palästinensischen Polizisten leicht verwundet wurde. Laut den offiziellen Reaktionen von Israels Militär und Politik waren die Aktionen wohl orchestriert. »Mehr als hundert Leute zusammen zu bringen, das braucht Organisation«, meinte Armeesprecher Brigadegeneral Yoav Mordechai.
Presseberichten aus Israel zufolge werden die Aktionen als vorauseilende Reaktionen auf bevorstehende Räumungen illegaler Siedlungen betrachtet, die gerichtlich bereits im Sommer 2011 angeordnet worden waren. Schließlich ist es ebenfalls Aufgabe der israelischen Besatzungstruppen, die Aktivitäten der Siedlungsbewegung dann zu verhindern, wenn sie auch nach israelischem Recht ungesetzlich sind. Die regelmäßig erfolgenden Zwangsevakuierungen von meist klammheimlich errichteten »Außenposten« stellen die beteiligten Soldaten und Polizisten auf eine Gewissens- und Nervenprobe, und sind in Israel innenpolitisch stark umstritten.
»Sie schlugen auf alles ein, das in ihrer Reichweite war.«
Diese und andere Ausschreitungen waren Ende letzten Jahres das Dauerthema in Israel; Politiker aller Lager äußerten sich zur Sache. Gerade die Übergriffe auf die Armee werden als neue Eskalationsstufe der innerisraelischen Spannungen wahrgenommen.
Abraham »Avi« Mizrachi, noch bis zum 16. Dezember Kommandierender General des betroffenen Zentralkommandos, erklärte nach Angaben von Maariv, er habe in seiner 30-jährigen Karriere »noch nie einen solchen Hassausbruch bei Juden gegenüber Soldaten« gesehen. Heimatschutzminister Matan Vilnai nannte die zum Teil minderjährigen Täter »kriminelle, jüdische Terroristen, die der Sicherheit des Landes schaden«, wie die konservative Tageszeitung Jerusalem Post berichtete.
Auch Verteidigungsminister Ehud Barak sprach im israelischen Rundfunk von »hausgemachtem Terror«, während Israel Ben Eliezer, ehemaliger General und Ur-Gestein der Arbeiterpartei, nach Angaben der linken Tageszeitung Haaretz erklärte, die Soldaten hätten die Angreifer schlichtweg erschießen sollen. Und Geheimdienstminister Dan Meridor dachte im Gespräch mit dem Nachrichtenportal ynet laut darüber nach, »was passiert wäre, wenn sie nicht Mitglieder der ›Hügeljugend‹, sondern Palästinenser gewesen wären«.
Da es sich aber um israelische Staatsbürger gehandelt hat, ging Noch-Oppositionsführerin Tzipi Livni in die Offensive und attestierte Regierungschef Benjamin Netanjahu Versagen auf ganzer Linie, obwohl »dies nicht weniger als der Kampf um den Charakter des Staates« sei. Ihr ist es offensichtlich nicht genug, dass der Ministerpräsident bereits kurz nach den Vorfällen die Sicherheitskräfte angewiesen hatte, »aggressiv« gegen die gewaltbereiten Randalierer vorzugehen.
Regelmäßige Zwangsevakuierungen von »Außenposten« stellen Soldaten und Polizisten auf eine Gewissens- und Nervenprobe.
Zwar distanzierte sich auch Danny Dajan, der Vorsitzende des Siedlerrates »Jescha«, von den Aktionen. Doch auf Seiten der Siedlerbewegung ließen sich im Laufe der Woche nach den Zwischenfällen ebenso Stimmen vernehmen, die das Verhalten der Hügeljugend nicht verurteilen wollten. Daniela Weiss, ehemalige Bürgermeisterin der Siedlung Kedumim und in die Jahre gekommenes enfant terriblé der Siedlerbewegung, erklärte im israelischen Fernsehen: »Macht euch kein falsches Bild, hier handelt es sich nicht um eine Minderheit der jüdischen Siedler, sondern um einen Großteil der jüdischen Bewohner in Judäa und Samaria.« Geschon Mesika, der zurzeit dem »Regionalrates Samaria« vorsitzt und in Elon Moreh unweit des palästinensischen Nablus lebt, gab zudem Verteidigungsminister Ehud Barak die Schuld für die Ausschreitungen: Dieser agiere »wie ein Pyromane«, er schüre erst das Feuer durch die Räumung von illegalen Außenposten. Präsident Schimon Peres erwiderte hingegen bei einem Treffen mit führenden Repräsentanten der Siedlerbewegung: »Der Nahe Osten brennt, muss man jetzt noch Öl ins Feuer gießen?«
Und als wäre das Wort des Staatsoberhaupts nicht wichtig genug, wandte sich auch eine moralische Autorität der Siedler an die Öffentlichkeit: Avichai Ronsky, ehemaliger Oberrabbiner der israelischen Armee und Mitbegründer der Siedlung Itamar. Er erklärte in einem Interview mit dem Radiosender Arutz Sheva die mittlerweile seit Monaten anhaltenden Ausschreitungen müssten sofort aufhören. »Ich rufe die Köpfe der Siedlerbewegung in Judäa und Samaria auf, sich zu treffen und zu beraten, was sie tun können. Es kann so nicht weitergehen.« Um seine Wut zu unterstreichen erklärte er, »wenn das die Realität hier wird, werde ich nicht länger hier leben.«
Nachdem nun viele Kritiker der Armee eine viel zu lasche Reaktion auf die Überfälle vorgeworfen haben, wurden immerhin zwei Tage später mindestens sechs jugendliche Siedleraktivisten in Jerusalem verhaftet, die an der Erstürmung des Armeestützpunktes teilgenommen haben sollen. Im Zuge der beginnenden Untersuchungen kam auch mittlerweile heraus, dass die Aktivisten von rechten Parlamentariern womöglich direkt über bevorstehende Räumungsaktionen der Armee informiert worden waren. Soviel wurde zumindest dem Likud-Knessetabgeordneten Zeev Elkin vorgeworfen.
Ein Ex-General meint, die Soldaten hätten die Angreifer erschießen sollen.
Die Ausschreitungen im Dezember sind kein einmaliger Vorgang. Die so genannten »price tag«-Aktionen sind immer wieder die Reaktion der Radikalen unter den Siedlern auf staatliche Maßnahmen gegen sie. Sie seien der, immer weiter steigende, »Preis«, den die Ordnungsmacht für die Durchsetzung des Rechts zu zahlen habe, das in den Augen der Extremisten – »vor Gott«, wie sie meinen – nicht gilt.
Drei Prozent aller Israelis, mehr als 330.000 Menschen, leben im Westjordanland, die allermeisten von ihnen in staatlich genehmigten Siedlungen mit zum Teil der Größe und dem Charakter von ganz normalen Kleinstädten. Doch gleich in ihrer Nachbarschaft lebt auch die radikale Minderheit der so genannten »Hügeljugend«: eine Mischung aus jungen, militanten Biobauern und gottesfürchtigen Abenteurern, die im Familienverbund mit ihren Wohnwagen und dem Sturmgewehr auf dem Rücken von Hügel zu Hügel ziehen. Manche von ihnen sind noch minderjährig, abgehauen von zuhause, leben in Höhlen, ohne Strom, fließendes Wasser und gehorchen weder dem Oberrabbinat, der Armee noch der Regierung Netanjahu, sondern nur einem – Gott. Eine nur wenige Tausende umfassende, aber lautstarke und gewaltbereite Minderheit.
Dass sich diese Gruppierung nun daran macht, dem Staat aus dem Untergrund heraus gewaltsam Paroli zu bieten, lässt in Israel wieder die Erinnerungen an solche Gruppen wie die rechtsextreme »Kach«-Partei und die »TNT-Bewegung« wach werden, die in den späten 1980ern und den 1990ern das Land in Atem hielten. Einer, der zum Geheimbund »TNT – Terror gegen Terror« enge Verbindungen hatte und bis heute vom Inlandsgeheimdienst Schin Bet beobachtet wird, ist Noam Federman. Der Vater von neun Kindern war bereits mit 14 Jahren in die ultra-nationalistische »Kach« eingetreten, hetzte gegen den säkularen Staat Israel und Palästinenser gleichermaßen, kam immer wieder mit dem israelischen Militär in Konflikt und wurde beschuldigt, einen Anschlag auf eine arabische Mädchenschule in Ost-Jerusalem geplant zu haben; die Anklage wurde jedoch mangels Beweisen fallen gelassen. Seinen Vater David hatte die britische Mandatsmacht vor der Staatsgründung Israels zeitweise nach Äthiopien exiliert, weil man in ihm eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit Palästinas sah. Federman war Mitglied der »Kämpfer für die Freiheit Israels«, kurz »Lehi«, und teilte sich in Afrika eine Zelle mit dem späteren Ministerpräsidenten Jitzchak Schamir, der zur ebenso radikalen »Nationalen militärische Organisation im Land Israel«, »Irgun« abgekürzt, gehörte.
Benimmt sich der Verteidigungsminister wie ein Pyromane?
Konfrontationen von solchen rechtsgerichteten Kräften in Israel und der Armee reichen bis in die Gründungszeit des Staates zurück. Blutiger Höhepunkt damals: die so genannte »Altalena-Affäre« im Juni 1948. Als die radikale »Irgun« eine große Waffenlieferung mit dem Schiff »Altalena« im neugegründeten Israel anlanden wollte, griffen die jungen israelischen Streitkräfte ein, um das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. In der Folgen starben 16 Irgun-Kämpfer und drei Soldaten, die »Altalena« wurde von der Armee versenkt. Die »Irgun« wurde später in die »Israel Defense Forces« zwangsintegriert. Bis heute entzweit der Vorfall die Meinungen; letztes Jahr war in Schriftstücken des israelische Verteidigungsministeriums von »ermordeten« Irgun-Kämpfern die Rede gewesen – eine Formulierung, die Amtschef Barak umgehend wieder hatte rückgängig machen lassen.
In der, bis heute, angespannten Lage wurde unterdessen Avi Mizrachi turnusmäßig als Chef des Zentralkommandos abgelöst: Generalmajor Nitzan Alon übernahm am 16. Dezember den Posten. Alon ist unter den Siedlern äußerst unbeliebt, er wurde schon als Kommandeur der für die Westbank zuständigen Territorialdivision von Siedlervertretern als »unfair« bezeichnet. Alon seinerseits hatte schon wiederholt vor den Machenschaften von Extremisten gewarnt, die für ihn »an Terrorismus grenzen«. Auch er war schon einmal von jugendlichen Aktivisten überfallen und als »Verräter« beschimpft worden.
Weitere Spannungen scheinen alleine mit dieser Personalie wieder vorherbestimmt. Bis auf allerdings köchelt der Konflikt nach dem Überfall auf die »Ephraim«-Brigade auf relativ kleiner Flamme weiter: Gut ein Dutzend Brandstiftungen und Graffiti-Schmierereien sowie die aufgeschlitzten Reifen von mehr als 20 Autos gelten noch als relativ ruhige Lage. Bis zur nächsten Räumungsaktion.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung aus dem »ADLAS – Magazin für Außen- Sicherheitspolitik«