Sehr geehrter Herr Bergmann,
sehr geehrter Herr Dr. Nievelstein,*
wir begrüßen es prinzipiell sehr, wenn sich der Sender Arte im Rahmen einer Fernsehdokumentation mit der Situation im Nahen Osten sachlich auseinandersetzt. Umso stärker bedauern wir, dass die am Samstag, den 22.07.2017 in “Arte Reportage” ausgestrahlte Dokumentation “Gaza: Ist das ein Leben?” stark durch Einseitigkeit geprägt ist und den Zuschauerinnen und Zuschauern entscheidende Informationen vorenthält. Wir möchten Ihnen unsere Sichtweise im Folgenden detailliert erläutern.
Die Autorin der Dokumentation, Anne Paq, sowie eine weitere Person ihres Regie-Teams schreiben auch für das Online-Portal „Electronic Intifada“ [1] [2]. Die „Electronic Intifada“ verbreitet nach Kriterien der Arbeitsdefinition Antisemitismus des European Centre on Racism and Xenophobia [3] vielfach antisemitische Propaganda [4] [5] [6]. Bereits der Name „Electronic Intifada“ suggeriert eine Unterstützung für die gezielte Tötung israelischer Zivilisten. Aus unserer Sicht diskreditiert eine solche Verbindung jegliche seriöse journalistische Arbeit.
Gleich zu Beginn der Dokumentation wird auf 2250 Menschen hingewiesen, „die beim Angriff Israels auf den Gaza-Streifen vor drei Jahren starben“ [Minute 01:31]. Nicht erwähnt wird, dass sich unter diesen Palästinenserinnen und Palästinensern 850 Kombattanten befanden [7]. Ebenso wenig findet die Tatsache Erwähnung, dass die Hamas Menschen als Schutzschilde missbrauchte und somit massiv zu den Opferzahlen beigetragen hat [8]. Im Satz darauf wird behauptet, dass „Gaza nach dem Willen der israelischen Politik nur an drei bis vier Stunden pro Tag Strom hat“ [1:35]. Es wird dabei außer Acht gelassen, dass erst vor kurzem auf Bitten der Palästinensischen Autonomiebehörde die Stromversorgung in Gaza reduziert wurde [9]. Ebenso verbreitet die Dokumentation die Falschinformation, Gaza sei “einer der am stärksten überbevölkerten Orte weltweit” [1:58]. Es existieren jedoch zahlreiche Metropolen die eine ebenso hohe oder sogar höhere Bevölkerungsdichte aufweisen [10].
Im weiteren Verlauf der Dokumentation wird analysiert: „Die Belagerung lähmt die Wirtschaft, 80 % der Leute hier überleben nur durch Hilfe von außen.“ [02:40]. Erneut unterlässt die Dokumentation eine Kontextualisierung, die verdeutlicht, dass die Regierung der Hamas durch Korruption, Arbeitsplatzvergabe nach politischer Gesinnung und Veruntreuung von internationalen Hilfsgeldern zu militärischen Zwecken die missliche wirtschaftliche Lage in Gaza maßgeblich mitbedingt [11] [12].
Darüber hinaus heißt es in der Dokumentation in Bezug auf die militärische Auseinandersetzung in Gaza 2014: „Durch israelische Bomben verloren 142 Familien drei oder mehr ihrer Mitglieder. Es war der brutalste Angriff Israels auf das palästinensische Volk seit 1967, als Israel den Gaza-Streifen besetzte“ [11:14]. An dieser Stelle wird das Bild der alleinigen Schuld Israels an den militärischen Auseinandersetzungen gezeichnet. Die Tatsache, dass Israel damit auf intensiven Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen reagierte, wird verschwiegen [13]. Ebenso wird suggeriert, dass Israels Militäraktionen sich gegen das palästinensische Volk als Ganzes richte und nicht etwa gegen die militärische Infrastruktur der Hamas. Schließlich wird im Zuge des historischen Vergleichs nicht erwähnt, dass der Sechstagekrieg durch die massive Bedrohung arabischer Staaten gegenüber Israel maßgeblich mitverursacht wurde [14].
Schließlich präsentiert die Dokumentation einen Palästinenser, der Gaza in Richtung Istanbul verlassen möchte, da es in Gaza Parks und Tanzmöglichkeiten ebenso wenig gäbe wie Strom [12:15]. Er fügt hinzu: „Das ist die Belagerung, die schnürt uns die Luft ab“ [12:25]. Für fehlende Tanzmöglichkeiten in Gaza eine “Belagerung” verantwortlich zu machen, entbehrt nicht nur jeder Logik, sondern verschweigt, dass die radikal-islamische Hamas die Kulturpolitik in Gaza verwaltet.
Neben den fehlenden Einordnungen der Gesamtsituation in Gaza, zu der auch die Nichterwähnung der radikal-islamischen Hamas zählt, fällt die Dokumentation auch dadurch auf, dass sie keine israelische Stimme zu den reichlich vorhandenen Vorwürfen gegen Israel zu Wort kommen lässt. Dies wäre im Sinne einer ausgeglichenen Darstellung der Situation jedoch dringend geboten gewesen.
Mit großer Bestürzung müssen wir daher konstatieren, dass die Dokumentation „Gaza: Ist das ein Leben?“ eklatante journalistische Mängel aufweist und letztlich ein stark verzerrtes und Israel dämonisierendes Bild verbreitet. Sie vermittelt insgesamt den Eindruck, Israel sei alleinig an der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Situation in Gaza Schuld.
Wir fordern Sie daher dazu auf, die Dokumentation unter seriösen journalistischen Gesichtspunkten zu überarbeiten oder die Veröffentlichung zurückzuziehen. Zudem erwarten wir eine Stellungnahme von Ihnen, wie es zu einer solch eklatanten Fehlleistung kommen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Weitere Unterstützer*innen:
Arye Sharuz Shalicar
Audiatur-Online
Christian Berninghaus
Dorothea Natanella Yedgar
Dr. h.c. Johannes Gerster, DIG-Ehrenpräsident
Dr. Nicholas Williams
Dr. Peter Fischer
Danilo Starosta, Kulturbüro Sachsen e. V.
Efstratia Dawood, Historikerin und Filmemacherin
Gegen jeden Antisemitismus FU Berlin
Gerd Buurmann
Günter Löffler
Hannes Greiling, Vorsitzender DIG Rhein-Neckar, Mannheim
Itai Böing
Jens Klemm
Kathrin Senz
Lea Rosh, Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas e. V.
Majid Khoshlessan, 1.Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Mannheim
Marina Kushnir
Micha Brumlik, Publizist und Autor
Michael Joachim
Miriam Magall, Konferenzdolmetscherin, Schriftstellerin – Übersetzerin
Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts. e. V.
Orna Gutmacher
Prof. Dr. Heinz Gess, Herausgeber Kritiknetz – Zeitschrift für kritischen Theorie der Gesellschaft
Sharon Adler, AVIVA-Berlin.de
Stephan Raabe
Semadar Pery
Tilman Tarach
Tobias Huch, Politiker
Ursula Wojciechowki
Wissenschaft für Frieden in Nahost (WIFNO)
(Falls Organisationen oder Einzelpersonen den Brief unterstützen möchten, melden Sie sich bei uns: https://jfda.de/kontakt/)
[1] Anne Paq: https://electronicintifada.net/people/anne-paq
[2] Ezz Zanoun: https://electronicintifada.net/people/ezz-zanoun
[3] http://www.antisem.eu/eumc-arbeitsdefinition-antisemitismus/
[4] https://electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/nazi-genocide-and-girls-bikinis-failing-sell-israel-experts-say
[5]https://electronicintifada.net/blogs/ali-abunimah/israel-boycott-part-global-anti-racist-struggle
[6] https://electronicintifada.net/content/international-jewish-network-condemns-israel-and-zionism/862
[7] http://www.tagesspiegel.de/politik/un-bericht-zum-gaza-krieg-2014-israelis-und-palaestinenser-begingen-zahlreiche-kriegsverbrechen/11952388.html
[8] https://www.unrwa.org/newsroom/press-releases/unrwa-condemns-placement-rockets-second-time-one-its-schools
[9] https://www.tagesschau.de/ausland/gaza-strom-israel-101.html
[10] http://www.sueddeutsche.de/politik/nahostkonflikt-neun-fakten-ueber-den-alltag-im-gazastreifen-1.2068820
[11] http://www.spiegel.de/politik/ausland/gazastreifen-hungern-gegen-die-hamas-a-1098203.html
[12] http://www.taz.de/!5329105/
[13] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-07/raketen-tel-aviv-hamas-gazastreifen
[14] http://www.bpb.de/apuz/30496/der-sechstagekrieg
* UPDATE (1.8. 15:56): Dr. Nievelstein (Geschäftsführer Arte Deutschland) hat sich soeben gemeldet, für den Offenen Brief bedankt und schreibt: „Die Arte Reportage wird nicht von Arte Deutschland in das Programmangebot von Arte eingebracht, da sie weder von der ZDF-Arte- noch von einer ARD-Arte-Redaktion verantwortet wird. Die Zuständigkeit für Themenauswahl, Herstellung, redaktionelle Gestaltung und Programmierung der beanstandeten Sendung liegt bei der Arte-Chefredaktion bzw. Programmdirektion in Straßburg. Eine inhaltliche Antwort wird Ihnen daher aus Straßburg zugehen.“
* UPDATE 2 (1.8. 23:45): In einer Stellungnahme von Arte aus Straßburg heißt es
„Den Eindruck, Israel werde in der Sendung für den Konflikt verantwortlich gemacht, kann ARTE dabei nicht nachvollziehen.“ Arte werde „auch in Zukunft unterschiedlichen Sichtweisen Raum geben.“