David Ben-Gurion und Konrad Adenauer haben für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland viel Gutes bewirkt. Eine Buchvorstellung
Von Rainer Bieling
Nach coronabedingtem Pausieren fand im Gebäude der Konrad-Adenauer-Akademie in der Tiergartenstraße wieder eine Veranstaltung mit Publikum statt, zu der die Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin und Brandenburg e.V. (DIG) und die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (KAS) gemeinsam eingeladen hatten. Die Teilnehmer dieser Kooperationsveranstaltung am 2. September 2020, einem Dienstagabend, erlebten eine Buchvorstellung, die nicht nur deshalb in Erinnerung bleiben wird, weil sie überhaupt stattfand, sondern auch, weil sie eine überaus positive Begebenheit ins Gedächtnis rückte: die „unmögliche Freundschaft“ zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer.
Eine unmögliche Freundschaft – so lautet denn auch der Titel des vorgestellten Buches von Michael Borchard, und unter dieser Überschrift stand auch die Veranstaltung selbst, zu der Jochen Feilcke, Vorsitzender der DIG Berlin und Brandenburg e.V., die Gäste begrüßte. Er erinnerte an den „Strauß-Deal“ von 1957, als der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß und Shimon Peres, seinerzeit Generaldirektor im israelischen Verteidigungsministerium, bei einem geheimen winterlichen Treffen im Privathaus des Bayern in Rott am Inn formlos die Lieferung von Militärfahrzeugen aus Deutschland nach Israel vereinbart hatten. Jochen Feilcke rief auch die entgegengesetzte Haltung der DDR-Regierung in Erinnerung, die arabischen Organisationen und Staaten in den 1970er-Jahren Waffen zur Zerstörung Israels geliefert hatte.
Die Moderatorin des Abends, Maya Zehden, Stellvertretende Vorsitzende der DIG Berlin und Brandenburg e.V., stellte anschließend ihren Gesprächspartner vor, den Autor des Buches: Dr. Michael Borchard ist Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung und hat seine Studie Eine unmögliche Freundschaft – David Ben-Gurion und Konrad Adenauer bereits im Dezember 2019 im Herder Verlag veröffentlicht. Zur Jahreswende ahnte noch niemand, dass der kommende Stillstand dazu führen würde, dass diese Publikation erst neun Monate später, im September 2020, vor einem Publikum gewürdigt werden könnte.
Maya Zehden erinnerte ihrerseits daran, dass heutzutage mehr Wissen über die 12 Jahre bis 1945 als über die ersten zwei Jahrzehnte nach 1945 verbreitet sei. Das Buch schließe eine Lücke, indem es die 1940er-Jahre in den Blick nehme, als sich die Bevölkerung des künftigen Staates Israel verdoppelte, und die Folgejahre, als sich die Bürger dieses neuen Landes der fortgesetzten Aggression arabischer Nachbarstaaten zu erwehren hatten.
Hier konnte Michael Borchard gut anknüpfen: „1945 fehlte alles, was flüssig war“, zitierte er ein Bonmot von Ben-Gurion. Das fehlende Flüssige waren Öl, sprich Benzin, Wasser und Geld. Dazu kam die Blockade der arabischen Staaten, die es erschwerte, den dreifachen Mangel zu beheben.
Ben-Gurion, so Borchard, habe sich schon als Oberbefehlshaber verstanden, als es noch keine staatlichen Strukturen und noch keine israelische Armee gegeben habe und deshalb gut gewusst, wie sehr der Mangel an Geld Mangel an Waffen bedeutete. Dass er später in den 1950ern auch die Bundesrepublik Deutschland zur Behebung dieses Mangels in den Blick nehmen konnte, verdanke sich seinem positiven Deutschland-Bild:
David Ben-Gurion hatte keine eigene oder familiäre Shoa-Erfahrung, weil er bereits 1906 aus den russisch besetzten Gebieten Polens, die zum Zarenreich gehörten, in die türkisch besetzten Gebiete Palästinas, die zum Osmanischen Reich gehörten, übergesiedelt war. So kannte Ben-Gurion das Deutsche Reich nur von seinen Reisen, die er zwecks Besuch der überwiegend in den Nachbarländern Schweiz, Österreich und Tschechoslowakei tagenden Zionistenkongresse unternommen hatte.
Die positive Deutschland-Erfahrung Ben-Gurions korrelierte, so Borchard weiter, mit einem positiven Judenbild Konrad Adenauers, das dieser sich früh zu eigen gemacht habe. Schon auf dem Kölner Apostelgymnasium hatte er Hebräisch gelernt, jüdische Mitschüler zu seinen Freunden gezählt und sich in der Bibelauslegung an jenen „Karfreitags- und Osternachtkatholiken“ orientiert, für die Jesus ein Jude war und blieb. Projüdisch zu sein sei für Konrad Adenauer „eine emotionale Angelegenheit“ gewesen; Michael Borchard nennt ihn einen „rheinisch-katholischen Zionisten“.
Aber dieses Rheinisch-Katholische prägte Adenauers Persönlichkeit auch in einer Weise, die sich dann doch sehr von der Persönlichkeit Ben-Gurions unterschied. Dennoch verstanden sich die beiden Politiker auf Anhieb, was wohl auch an Adenauers dezidierter Ablehnung des Nationalsozialismus lag, die ihn in den Augen Ben-Gurions zu einer vertrauenswürdigen Person machte. So sei „eine wirkliche Freundschaft“ entstanden, die vieles möglich machte, was zuvor unmöglich erschien – und das, obwohl sich die beiden seit 1960 nur zweimal getroffen hatten.
„Zweieinhalb Begegnungen“ seinen es am Ende geworden, fügt Borchard hinzu und berichtet vom Deutschland-Besuch David Ben-Gurions zur Beisetzung Konrad Adenauers im April 1967, um von dem toten Freund persönlich Abschied zu nehmen. Auch dies eine emotionale Angelegenheit, von tiefer Sympathie geprägt. Dabei habe die Annäherung der beiden Spitzenpolitiker anfangs politisch unter keinem guten Stern gestanden.
Das will Maya Zehden dann doch etwas genauer wissen, und Michael Borchard lässt sich nicht zweimal bitten – und berichtet unerhörte Dinge: Begonnen habe der Dialog zwischen Bonn und Tel Aviv 1951 mit einer israelischen Briefbombe, die Konrad Adenauer zugedacht war. Statt des Bundeskanzlers tötete sie einen Polizeibeamten, den die Sendung misstrauisch gemacht hatte. Später sollte sich herausstellen, dass ein künftiger Friedensnobelpreisträger der Absender war: Menachem Begin. Er, der Gegenspieler Ben-Gurions in Israel, hatte schon den Gedanken an ein Gespräch mit deutschen Politikern als Verrat und mögliche Wiedergutmachungszahlungen der Bundesregierung als „Blutgeld“ denunziert. Die Versendung der Briefbombe, deren Anstifter Begin war, sollte die Verhandlungen torpedieren.
Um zu begreifen, ergänzt Borchard, wieso für Menachem Begin ohne zu zögern das Mittel der Gewalt in Frage kam, müsse man wissen, dass dieser wegen seiner Shoa-Erfahrung ein negatives Deutschland-Bild hatte: Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen musste er fliehen und beide Eltern zurücklassen, die er, nach dem Einmarsch der Roten Armee seinerseits nach Sibirien ins russische Straflager Workuta deportiert, vor dem staatlichen Massenmord durch die deutsche Besatzmacht nicht schützen konnte.
Maya Zehden versucht, das Gehörte einzuordnen: Weil die Nachfolger der politisch Verantwortlichen der 1940er-Jahre Anfang der 1950er-Jahre an Wiedergutmachungszahlungen für die Taten ihrer Vorgänger denken, sei das ein „Blutgeld“, das von der Generation der Hinterbliebenen in Israel unter keinen Umständen angenommen werden dürfe? Ja, erläutert Michael Borchard, auch in Israel standen sich die der Shoa Entkommenen und die, die ihr durch Auswanderung nach Palästina zuvorgekommen waren, in den Jahren danach verständnislos gegenüber. Deutschenfreundlich die einen wie David Ben-Gurion, deutschenfeindlich die anderen wie Menachem Begin.
Dass ein prodeutscher Israeli und ein projüdischer Deutscher die beiden Spitzenämter ihrer Staaten innehatten, sei ein Glücksfall der Geschichte und habe eben jene „unmögliche Freundschaft“ möglich gemacht, die gegen alle Widerstände nicht nur im jeweiligen Inland, sondern auch im befreundeten Ausland jenen Mangel an Flüssigem behoben hat, der die Existenz des Staates Israel immer wieder aufs Neue gefährdete. Denn auch die USA als Besatzungsmacht in Deutschland waren „not amused“ von der Vorstellung, dass die gerade neu geschaffene und auf Anhieb erfolgreiche D-Mark nun nach Israel fließen sollte statt in die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik.
Auch einige europäische Staaten reagierten mit großer Zurückhaltung auf mögliche einseitige Wiedergutmachungszahlungen an Israel, bereiteten sie doch gerade das spätere Londoner Schuldenabkommen vor, mit dem die Bundesrepublik Deutschland für Schäden haften und zahlen sollte, die das Deutsche Reich den Nachbarländern im Zweiten Weltkrieg zugefügt hatte. Neben diesen Widerständen aus dem Ausland seien auch die Widerstände im Inland beträchtlich gewesen, betont Borchard und verweist auf die damals bereits ermittelten Zahlen der Allensbacher Demoskopie-Forscher: Nur 11 Prozent der Bundesbürger unterstützten Adenauers Haltung, 44 Prozent hielten eine Wiedergutmachung für überflüssig.
Vor dem Hintergrund dieses nationalen und internationalen Meinungsklimas passt eine Briefbombe dann doch ins Bild und zeigt, dass es Akteure gab, denen im Wortsinn jedes Mittel recht war, um die Angelegenheit in ihrem Sinne zu beeinflussen. Des allen ungeachtet reiste Adenauer 1951 zu einem Geheimtreffen nach Paris, in dem er als deutscher Bundeskanzler erstmals direkt mit den von Ben-Gurion entsandten israelischen Regierungsvertretern den Gedanken und die denkbare Höhe einer finanziellen Wiedergutmachung erörterte.
Wie habe Adenauer die Sache denn zu einem guten Ende bringen können, will Maya Zehden wissen – angesichts dieser Gemengelage von Widerstand im In- und Ausland und vor dem Hintergrund der Forderungen der Siegermächte, die nicht geheim, sondern ganz offiziell in London verhandelt wurden. Michael Borchard sieht hier ein besonders gutes Beispiel für das, was man heute Adenauers Lösungskompetenz nennen würde. Zuerst und in aller Öffentlichkeit sorgte er dafür, dass nach langen Verhandlungen mit fast 30 Staaten am 8. August 1952 ein Abkommen der Londoner Schuldenkonferenz vorlag. Darin erklärte die Bundesregierung, 14 Milliarden D-Mark zu zahlen. Parallel zu den Londoner Verhandlungen liefen in dem kleinen Ort Wassenaar bei Den Haag die deutsch-israelischen Verhandlungen.
Einen Monat nach London, am 10. September 1952, unterzeichneten Konrad Adenauer in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler und Bundesminister des Auswärtigen, der er von 1951 bis 1955 zugleich war, und der israelische Außenminister Moshe Sharett in Luxemburg ein Abkommen über Wiedergutmachungsleistungen, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete, dem Staate Israel einen Betrag von 3 Milliarden D-Mark zu zahlen – in bar und in Gestalt von Warenlieferungen. Diese Leistungen galten als Entschädigung für die Eingliederung von Überlebenden der Shoa, weitere 450 Millionen D-Mark flossen der Jewish Claims Conference zur Unterstützung der außerhalb Israels lebenden jüdischen Flüchtlinge zu.
Dieses Nacheinander von London und Luxemburg war kluges politisches Handeln, schließt Borchard das Kapitel, so fanden beide Abkommen allseits Akzeptanz und schufen Vertrauen in den guten Willen der bundesdeutschen Regierung, die von der vorhergehenden Reichsregierung angerichteten Schäden nicht nur symbolisch ausgleichen zu wollen. Im Verhältnis zwischen Israel und der Bundesrepublik, die zu der Zeit keine diplomatischen Beziehungen hatten, verstärkten die bald auch einsetzenden Wiedergutmachungsleistungen eben jenes wachsende Vertrauen, das zu dem von Jochen Feilcke eingangs erwähnten „Strauß-Deal“ von 1957 führte, den Borchard eine „Räuberpistole“ nennt: Da hätten zwei etwas eingefädelt, Franz Josef Strauß und Shimon Peres, das diplomatisch gesprochen in einer Grauzone lag, einem gravierenden Mangel an Flüssigem aber mit Militärgütern abhalf.
Als es am 14. März 1960 zu einem ersten Treffen von Konrad Adenauer und David Ben-Gurion im Hotel Waldorf Astoria in New York kam, kannten und vertrauten sich die beiden Männer schon ein Jahrzehnt lang, ohne sich je begegnet zu sein. Für die Weltpresse ein Weltereignis, für die beiden Männer zwar auch ein Ereignis, aber eben keines aus dem Nichts: Hier trafen sich zwei, die lange schon an einem Strang zogen und sich nun auch persönlich gut leiden konnten. Nur so werde verständlich, so Borchard, dass Ben-Gurion offen weitere militärische Unterstützung zu erbitten wagte, die es in sich hatte: Fernlenkwaffen und U-Boote.
Das geschah nicht ohne Grund und nicht ohne Not: In Ägypten regierte Präsident Nasser, ein Israel-Hasser und zu der Zeit Führer der arabischen Welt. Gamal Abdel Nasser hatte mit Hilfe deutscher Techniker Raketen entwickelt, die bei einem erneuten Angriff auf Israel zum Einsatz kommen sollten. Mit ebenfalls deutscher Waffentechnik wollte Ben-Gurion reagieren können, zu Lande und zur See. Das ließ sich mit einem Gespräch nicht klären. Ludwig Erhard, seit 1963 Nachfolger Adenauers im Kanzleramt und schon 1951 als Wirtschaftsminister Befürworter der Wiedergutmachungszahlungen an Israel, war „kein Zauderer“, so Borchard, und hieß nicht nur weitere militärische Lieferungen zur Stärkung der israelischen Resilienz gut, sondern veranlasste 1965 auch die Aufnahme nunmehr offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel.
Michael Borchard hebt die „eminent wichtige Rolle“ Ludwig Ehrhards für die deutsch-israelischen Beziehungen besonders hervor. Heute noch hält die damals vereinbarte Kooperation beim Waffen- und beim Wissenstransfer an – und sichert Israel dank deutscher U-Boote die Zweitschlagkapazität gegenüber einem politischen Gegner, der seit 40 Jahren Iran heißt und unbeeindruckt von Atomabkommen am Ziel der Endlösung 2.0 festhält.
Maya Zehden möchte aber noch das vorletzte Kapitel der „unmöglichen Freundschaft“ angesprochen wissen – die zweite Zusammenkunft der beiden Staatsmänner. Tatsächlich trafen sich Konrad Adenauer und David Ben-Gurion am 9. Mai 1966 ein zweites Mal, erstmals sogar im frisch vom westlichen Deutschland anerkannten Israel: im Kibbuz Sde Boker in der Wüste Negev. Dorthin hatte sich Ben-Gurion nach dem Ende seiner Ministerpräsidentschaft 1963 zurückgezogen. Ebenfalls 1963 hatte Adenauer die Kanzlerschaft auf- und an Ludwig Erhard abgegeben. Beide waren also keine Staatsmänner mehr, präzisiert Borchard, sondern Privatiers.
Die Stimmung der beiden Männer, die gemeinsam so vieles bewegt hatten und sich nun unbeschwert als Pensionäre privat zu Hause begegneten, beschreibt Michael Borchard nach Lektüre der historischen Quellen als „ausgesprochen herzlich“. Die Familien, so berichtet er, hielten bis heute Kontakt, und dass es sich David Ben-Gurion nicht nehmen ließ, im Folgejahr zum letzten Kapitel nach Rhöndorf zu kommen, um seinem Freud Konrad Adenauer am 25. April 1967 das letzte Geleit zu geben, sei der folgerichtige Abschluss dieser „unmöglichen Freundschaft“.
Großer Applaus des coronabedingt kleinen, an diesem 2. September 2020 aber wieder möglichen Publikums in der Konrad-Adenauer-Akademie für die beiden unmöglichen Freunde und für die beiden Protagonisten auf dem Podium, die das Unwahrscheinliche so plausibel wie das Normalste der Welt vor Augen führten.
Michael Borchard: Eine unmögliche Freundschaft – David Ben-Gurion und Konrad Adenauer. Herder Verlag, Dezember 2019. Gebundene Ausgabe, 384 Seiten, 24 Euro.
Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief.