Ein Beitrag von Juso-Mitglied Vincent Wolff, der gleichzeitig Mitglied bei uns und Präsidiumsmitglied der DIG ist, zum Beschluss der Jusos hinsichtlich des Willy Brandt Centers Jerusalem:
Artikel zuerst erschienen bei Mena-Watch.
Ist die Fatah-Jugend ein wichtiger Partner auf dem Weg zum Frieden in Nahost? Schikaniert die israelische Regierung die palästinensische Bevölkerung mit unverhältnismäßigen Eingriffen? Was hat das alles mit einer „eurozentristischen“ Sichtweise zu tun? Der jüngste Beschluss der Jusos zu Israel und den palästinensischen Gebieten zeigt ein faszinierendes Unwissen über die Lage vor Ort.
Ein Beschluss des Bundeskongress der Jusos hat medial große Wellen geschlagen. Der am 29. November 2020 beschlossene Antrag „Unsere Vision für das Willy Brandt Center Jerusalem“ führt auf sieben Seiten die Sicht des Parteinachwuchs zum Nahostkonflikt aus – und nimmt nebenher auch noch Stellung zum Willy Brandt Center (WBC), dem eigentlichen Antragsgegenstand. Der Antrag zeichnet sich durch Naivität und Unkenntnis hinsichtlich der Sicherheitslage vor Ort aus und übt sich in vordergründiger, falscher Äquidistanz, während er zugleich einseitig den israelischen Staat verurteilt. Wie konnte es dazu kommen?
Jusos entschuldigen sich bei WBC
Der beschlossene Antrag dient als Entschuldigung für angebliche vergangene Fehler. 2019 verurteilten die SPD-Parteijugend in einem weit über Parteigrenzen hinaus beachteten Papier den Antisemitismus und Antizionismus in der UN und stellten sich unmissverständlich an die Seite des jüdischen Staates.
Dafür gab es von Kennern des Konflikts aus allen politischen Ecken Zuspruch. Aber ausgerechnet im hauseigenen Friedensprojekt Willy Brandt Center verschlechterten sich die Beziehungen zu den der dort agierenden Partnern, vor allem mit der Jugendorganisation der antizionistischen Fatah. Anstatt dies zu problematisieren und den zuvor gefassten Beschluss mit Leben zu füllen, rudert der Bundeskongress jetzt auf Antrag des Bundesvorstandes zurück und entschuldigt sich – nach einem gemeinsamen „Visionsprozesses“ der Jusos mit dem WBC – für die vergangenen Beschlüsse.
Dies führt soweit, dass Partnern des WBC ein Veto bezüglich „inhaltlicher Positionierung zum Konflikt“ eingeräumt wird. Dies umfasst auch die Vertreter der Fatah-Jugend, deren inhaltliche Position eigentlich mit denen der Jusos nicht vereinbar sein sollten. Bestimmt mag es engagierte Mitlieder innerhalb der Fatah-Jugend geben, aber diesen Freifahrtschein sollte niemand erhalten. So verpassen sich die Jusos selbst einen Maulkorb.
Hängt Antisemitismus vom Sprechort ab?
Die Antragschreiber ziehen sich zudem auf eine Sprechort-Position zurück: „Unsere Perspektive ist immer die der Nachfolgegenerationen der NS-Täter*innen“, daher gehe es nun darum, „weg von einer weißen, eurozentristischen hin zu einer globalen sozialistischen Sichtweise auf Augenhöhe“ zu kommen. Die Kritik an den antisemitischen Verhältnissen vor Ort entspricht in dieser Lesart also einer deutschen Perspektive und nicht der Realität vor Ort.
Dies verkennt nicht nur den universellen Charakter der Wahrheit, die keinen Sprechort kennt, sondern auch den von Judenhass, der aus einer „weißen, eurozentristischen“ Sicht nicht mehr oder weniger kritikwürdig sein sollte als aus einer „schwarzen, subalternen“. Zudem gäbe es für die „Nachfolgegenerationen der NS-Täter*innen“ genau eine richtige Perspektive: unbeirrbar an der Seite des jüdischen Staates zu stehen.
Das Manko des deutschen Sprechorts soll durch internationale Solidarität behoben werden: „Wir tun dies auf Grundlage der Werte, die uns alle im Projekt einen: Sozialismus, (…) Kampf gegen Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus“. Diese gleichsetzende Nebeneinanderstellung impliziert, dass sich beide Konfliktparteien aufgrund von Ressentiments hassen würden, die sich im gemeinsamen sozialistischem Kampf schon klären ließen. Zum einen entspricht dies nicht der Wahrheit, zum anderen offenbart es ein eklatantes Missverständnis des Antisemitismus im Allgemeinen und seiner Rolle im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern im Speziellen.
Wer trägt die Schuld am Stillstand vor Ort?
Wenn der Juso-Antrag schließlich den „Alltag im Konflikt“ behandelt, wird im neutralen Duktus über einen „Stillstand der Verhandlungen“ gesprochen, Täter und Opfer scheint es genauso wenig zu geben wie für Terror Verantwortliche: „Gewalt ist eine allgegenwärtige Bedrohung“. So wird eine falsche Gleichheit zwischen den beteiligten Parteien geschaffen, die in der Realität nicht besteht: Israel will Frieden, die palästinensischen Vertreter lehnen ihn konsequent ab und haben bisher noch jede Friedensverhandlung zum Scheitern gebracht.
Die mangelnde Bereitschaft, Verantwortlichkeiten auch beim Namen zu nennen, zieht sich durch den gesamten Antrag: „Die Errichtung eines selbstbestimmten, unabhängigen und überlebensfähigen palästinensischen Staates rückt zunehmend durch das Agieren der rechten israelischen Regierung (…) in weite Ferne“. Dies ist nicht nur falsch, sondern entmündigt geradezu paternalistisch die palästinensischen Verantwortlichen, die als Handelnde gar nicht wahrgenommen werden.
Darüber hinaus findet nicht mit einem Wort Beachtung, was parallel zum „Visionsprozess“ des WBCs geschah: Mit den Abraham Accords wurde die Welt Zeuge eines historischen Friedensdeals des israelischen Staates mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain., wobei weitere arabische Staaten bald folgen könnten.
Unverständnis der Situation in Israel
Die Jusos „treten klar für die legitimen Sicherheitsinteressen Israels und Palästinas ein“, liest man im Antrag – und auch diese Äquidistanz gibt die Realität vor Ort verzerrt wieder. Schließlich sind es palästinensische Terroristen, die seit Jahrzehnten die Ermordung von Zivilisten in Israel betreiben. Der israelische Staat reagiert defensiv auf äußere Aggressionen: Eine Tatsache, die der Text konsequent verschweigt.
In diesem Zusammenhang ist der Aufruf zum aktiven Gewaltverzicht aller „relevanten Akteur*innen“ besonders zynisch. Der Antrag spezifiziert: „Für eine Mauer zwischen Israel und Palästina ist kein Platz“. Diese Aussage verschleiert den Daseinsgrund für den Sicherheitszaun (der nur an wenigen Stellen eine tatsächliche Mauer ist): das Einsickern palästinensischer Terroristen über die sogenannte „Grüne Linie“. Seit der Errichtung der Sicherheitsanlage ist die Zahl der Selbstmordanschläge substanziell gesunken, womit deren einseitiger Abbau unmittelbar das Leben von Zivilisten auf israelischer Seite gefährden würde.
Dazu gesellen sich die üblichen pauschalen Verurteilungen gegen den jüdischen Staat: etwa die Behauptung einer angeblich „völkerrechtswidrigen Annexion der palästinensischen Gebiete“ oder einer sich von Israel angemaßten „strategischen Kontrolle über die Jordan-Quellen“ sowie ganz allgemein der Vorwurf eines „Systems von Unterdrückung und Besatzung“, deren „kollektive und individuelle Traumata (…) die Narrative beider Gesellschaften (prägen)“. Die Jusos reproduzieren hier eine jahrzehntelangen antiisraelische Agitation, die es mittlerweile bis weit in den Mainstream geschafft hat.
Wie konnte es dazu kommen?
Hinter diesem Sinneswandel gegenüber der Beschlusslage von 2019 liegen zwei zentrale Entwicklungen. Zum einen steuert ein früher einflussreicher Juso mittlerweile den Kurs des WBC vor Ort. Tobias Pietsch, vormals Vorsitzender der Jusos Friedrichshain-Kreuzberg und mit engem Draht zum damaligen Bundesvorstand, ist nun „Friedenskraft“ im Willy Brandt Center.
Bereits zu Juso-Zeiten galten Pietsch‘ Äußerungen zu Israel als umstritten, sein Wechsel zum WBC wurde von vielen Jusos damals als folgerichtiger Schritt gesehen. Ein „Visionsprozess“ zwischen Jusos und WBC ist ohne die aktive Teilnahme von Tobias Pietsch kaum vorstellbar. Dadurch wachsen die Jusos näher an das WBC, auf Kosten der Israel-Solidarität.
Zudem stehen hinter den Israel-Debatten auch die Konflikte zwischen den beiden großen linken Juso-Strömungen, den Tradis (Traditionalisten) und dem Netzwerk linkes Zentrum (NwlZ). Zur ersten Gruppe gehören die Landesverbände Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz und Saarland. Zum NwlZ zählen sich tendenziell die Jusos aus Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, wobei das NwlZ als tendenziell Israel-solidarischer gilt.
Steckt hinter allem die Springer-Presse?
In der ersten Reaktion auf die medialen Kritik sahen sich Teile der Partei und des Parteinachwuchses als Opfer einer großen Kampagne von Springer-Presse und Konservativen. So wird der Springer-Presse vorgeworfen populistisch und ohne Berücksichtigung des Kontextes zu arbeiten, wobei ein Blick in eben jene Blätter erstaunliches über die Partner vor Ort offenlegt. In der Tat zeigten sich zahlreiche Abgeordnete von CDU und auch FDP empört über den druckfrischen Juso-Beschluss. Damit sind sie aber nicht alleine, sondern reihen sich in die Kritik von zahlreichen NGOs und jüdischen Organisationen ein, die sich für eine Konfliktbeilegung einsetzen, aber dennoch die Fatah für keinen geeigneten Kooperationspartner halten.
Hinter dem Vorwurf der Jusos verbirgt sich bei genauerem Hinsehen denn auch vor allem eins: Der Unwille, sich mit der breiten Kritik auseinanderzusetzen und Fehler einzusehen. Diese lagen eben nicht in der 2019 vorgenommenen Verurteilung des Antizionismus in der UN, sondern in der sich nun zeigenden hilflosen Äquidistanz und Unwissenheit über die Konfliktlage mit all ihren dahinterstehenden Ideologien – die sich eben nicht einfach am Gesprächstisch auf Augenhöhe beilegen lassen.
Jusos müssen jetzt ihre Israel-Solidarität beweisen
Die Jusos sollten sich nicht auf eine vage Position zu „legitimen Sicherheitsinteressen“ versteifen, sondern der von ihr ja propagierten Israel-Solidarität Substanz einhauchen. Dies bedeutet, problematischen „Schwesterorganisationen“ den Kampf anzusagen und klare Abgrenzungen zu Antisemitismus als Grundvoraussetzungen einzufordern. Dies würde zwar sicherlich zu Konflikten in der „International Union of Socialist Youth“ (IUSY) führen, müsste aber dennoch die rote Linie werden, die nicht überschritten werden darf.
Auch würde das wohl die Beziehungen zum WBC belasten, aber die Jusos sind gegenüber dieser Institution nicht weisungsgebunden. Ja, der Dialog vor Ort ist wichtig, und den wirklich mutigen Akteuren, die sich auf palästinensischer Seite für Annäherung einsetzen, muss ein sicherer Ort gegeben werden. Aber wenn sich das WBC nicht dazu durchringen kann, Antisemitismus und Antizionismus zu verurteilen, dann disqualifiziert es sich für eine enge Zusammenarbeit und untergräbt sein selbstgegebenes Daseinsziel, „vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einen Beitrag zur Verständigung in der Region (zu leisten)“.
Für die Jusos bedeutet das: Zu Israel stehen heißt auch, andere Gruppen und selbst mögliche „Partner*innen“ als Teil des Problems zu benennen. Der Dialog mit Vertretern aus den palästinensischen Gebieten ist wichtig, diesen kann und muss aber auch eine selbstbewusste Juso-Position zu Israel zugemutet werden. Die Lage wird sich sicherlich nicht verbessern, wenn Probleme verschwiegen oder geleugnet werden.
Daher müssten die Jusos, wenn es Ihnen mit Ihrem Bekenntnis zu Israel ernst ist, daran arbeiten, diese Beschlüsse zurückzunehmen. Denn nur ein israel-solidarischer Jugendverband der Sozialdemokratie verdient eine Zukunft.