Ansprache Gedenkveranstaltung „Wir waren Nachbarn“

von Andrea von Treuenfeld
26. Januar 2020

Auschwitz

Als am Morgen des 27. Januar 1945 sowjetische Truppen Auschwitz-Monowitz und am Nachmittag das Stammlager Auschwitz und Auschwitz-Birkenau erreichten, stießen sie in allen drei Lagern auf unzählige Leichen. Und auf insgesamt etwa 7.000 Überlebende, darunter 500 Kinder. Viele von ihnen starben noch in den nächsten Tagen.

Von den 1,3 Millionen Menschen, die in diese Lager und ihre vielen Außenlager verschleppt worden waren, starben dort 1,1 Millionen. Eine Million der Getöteten waren Juden. Aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehova, Kommunisten, Widerstandskämpfer wurden hier vergast oder starben an Hunger, durch medizinische Experimente, Krankheiten, Folter.

Die wenigen, die Auschwitz – und das steht hier als Synonym für die unzähligen Lager der Nazis –, die wenigen, die überlebt haben, waren schwerst traumatisiert. Dennoch entschieden sich viele dieser Menschen, die oftmals ihre Erstfamilie in der Shoa verloren hatten, für die Neugründung einer Familie. Was gleichbedeutend war mit einem Zeichen des Triumphes: „Hitler hat uns nicht zerstören können!“ Oder wie manch einer von ihnen es formulierte: „Die Kette ist nicht abgebrochen!“

Aber das Leben nach Auschwitz war geprägt von den Erfahrungen aus der Zeit der Verfolgung, Demütigung und Todesangst. Und die daraus resultierenden Traumata gaben die Überlebenden an ihre Kinder weiter – manchmal verbal, meist jedoch nonverbal. Wie muss das gewesen sein, in einer Atmosphäre aufzuwachsen, in der Schweigen herrschte? In der nicht gesprochen wurde über das, was allgegenwärtig war, aber nicht benannt wurde?

„Vielleicht hätte ich fragen müssen, mehr fragen müssen“, haben sich wohl einige der Nachgeborenen irgendwann gesagt. Aber der Respekt vor der Trauer der Eltern hat auch sie verstummen lassen. Viele von ihnen haben erst spät, wenn überhaupt, die Geschichte ihrer Mutter oder ihres Vaters erfahren. Weil diese nicht sprechen, das Unsagbare nicht in Worte fassen konnten.

Für diese zweite Generation, die mit dem Leiden der Eltern aufwuchs, wurde es zur Aufgabe, ihnen keine weiteren Verletzungen zuzufügen, sie auch nach außen zu schützen, sie zu beschützen: eine ungute Umkehrung der Verhältnisse. „Ich war“, hat mir die Tochter zweier Überlebender erzählt, „immer darauf fokussiert, dass die beiden einigermaßen funktionstüchtig bleiben und bin praktisch seit meiner Geburt erwachsen gewesen.“ Man muss nicht viel Phantasie haben, um sich vorzustellen, was das für das Leben dieser Frau bedeutet hat und wie weit diese Erfahrung sie geprägt hat.

Die Shoa blieb also, obwohl sie sie nicht selbst erlebt haben, ein wesentliches Element in der Biografie dieser Menschen und setzte sich somit fort in der dritten Generation. Doch die stellte Fragen. Und die Großeltern sprachen – mit den Enkeln sehr viel leichter als mit den Töchtern und Söhnen: Das Phänomen des sogenannten Generationensprungs. Aber auch, wenn diese Enkel, schon aufgrund der zeitlichen Entfernung, leichter mit dem umgehen können, was ihrem Großvater, ihrer Großmutter geschehen ist, so bleibt Auschwitz doch auch für sie ein ganz persönlicher Albtraum. Manche von ihnen stellen sich diesem Albtraum, sehr direkt.

Dazu Worte einer Siebzehnjährigen: „Schon als wir nach Auschwitz gefahren sind, ich wollte nicht diesen Bus verlassen. Weil ich so geweint habe. Und dann stand ich vor dem Tor und habe keine Luft bekommen. Weil ich einfach nicht verstehen konnte, warum das passiert ist. Zu wissen, dass ich gerade da bin, wo meine Großeltern ihre schlimmste Zeit verbracht haben, das war schrecklich. Sie mir dort vorzustellen, ich konnte es nicht. Trotzdem wollte ich schon immer dahin. Für meine Großeltern. Damit ich ihnen zeige, auch wenn sie es nicht mehr erlebt haben, wie wichtig sie mir sind, wie wichtig mir ihre Geschichte ist.“

Auschwitz war am 27. Januar 1945 nicht vorbei.

Und deshalb muss die Geschichte dieses Konzentrationslagers, das innerhalb weniger Jahre zum größten Friedhof der Welt wurde, immer wieder neu erzählt werden.

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