Aus Anlass der "Woche der Brüderlichkeit" lasen Ella Milch-Sheriff und Ingeborg Prior am 05. März 2009 im Centrum Judaicum aus ihrem Buch "Ein Lied für meinen Vater"

Bericht und Fotos von Meggie Jahn

Auf Einladung von DIG Berlin und Potsdam, Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ), AMCHA Deutschland e.V. und Deutsch-Polnischer Gesellschaft Berlin (DPGB) fand am 5. März 2009 im Centrum Judaicum in Berlin-Mitte eine außergewöhnliche Lesung statt. Die israelische Komponistin Ella Milch-Sheriff, Kind von Holocaust-Überlebenden in Israel, und die deutsche Journalistin und Autorin Ingeborg Prior lasen aus ihrem gemeinsam herausgegebenen Buch „Ein Lied für meinen Vater“. In dem Buch läßt Ingeborg Ella ihre Geschichte erzählen, die sich aus deren Geschichten zusammen setzt und die sie durch eigene Recherchen und Impressionen ergänzt hat. Gemeinsam haben die beiden Frauen dann Passagen aus dem Tagebuch von Ellas Vater ausgesucht und beides miteinander verwoben.

von links: Ingeborg Prior, Bernd Streich, Dr. Peter Fischer, Ella Milch-Sheriff, Meggie Jahn, Jochen Feilcke und Christian Schröter
von links: Ingeborg Prior, Bernd Streich, Dr. Peter Fischer, Ella Milch-Sheriff, Meggie Jahn, Jochen Feilcke und Christian Schröter

Im Anschluss an die Lesung diskutierten Ella Milch-Sheriff und Ingeborg Prior mit dem Publikum.

Bernd Streich bei seinem Grußwort.
Bernd Streich bei seinem Grußwort.
Jochen Feilcke (DIG-Vorsitzender), Dr. Peter Fischer (Vorsitzender von AMCHA), Karl-Heinz Grimm (Gschf. der GCJZ) und Christian Schröter (Vorsitzender der DPGB)
Jochen Feilcke (DIG-Vorsitzender), Dr. Peter Fischer (Vorsitzender von AMCHA), Karl-Heinz Grimm (Gschf. der GCJZ) und Christian Schröter (Vorsitzender der DPGB)

Der katholische Vorsitzende der GCJZ Berlin, Bernd Streich, dessen Dachorganisation – der Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit – jährlich die „Woche der Brüderlichkeit“ ausrichtet, sprach stellvertretend für alle vier Veranstalter ein Grußwort und freute sich über die Gelegenheit, das Buch in diesem festlichen Rahmen in Berlin präsentieren zu können. Franziska Günther vom Aufbau-Verlag Berlin, in dem das Buch 2008 erschienen war, stellte im Anschluss die Autorinnen und den Inhalt des Buches vor.

Franziska Günther vom Aufbau-Verlag stellt das Buch vor.
Franziska Günther vom Aufbau-Verlag stellt das Buch vor.

Ella Milch wurde 1954 in Haifa als „Sabre“ (Kaktusfrucht als Synonym für im Lande geborene Israelis: außen stachelig und innen süß) geboren, nachdem ihre aus dem polnischen Galizien stammenden Eltern den Holocaust überlebt und im Mai 1948 – kurz nach Gründung des Staates – mit ihrer älteren Schwester Rosa (später Shoshana) und 800 weiteren jüdischen Emigranten nach Israel gekommen waren. Ellas Kindheitserinnerungen wurden wie die ihrer Schwester geprägt von der fehlenden emotionalen Zuwendung der Mutter und den strengen Züchtigungen des Vaters.

Ellas Zuflucht war die Musik – bereits mit zwölf Jahren fing sie an zu komponieren. Als sie eines Tages bei der Suche nach neuem Lesestoff eher zufällig auf die Aufzeichnungen ihres Vaters stieß, fing sie an, dessen Kälte mit seinen schrecklichen Erlebnissen in der Zeit der Nazi-Diktatur in Verbindung zu bringen. Als Jugendliche in Israel hatte sich Ella nie für die Vergangenheit interessiert, vielmehr wollte sie in Israel eine eigene Zukunft aufbauen. Durch das Tagebuch ihres Vaters, das er lange Jahre verloren glaubte und deshalb neu schrieb, erfuhr sie vom Verlust seiner ersten Familie im Holocaust.

Dass die Leidensgeschichte des Vaters schließlich in die Welt gelangte, wurde nur durch ihre Musik ermöglicht, die ihre Eltern zunächst nicht als Broterwerb akzeptieren wollten, die ihren Himmel aber zum Leuchten brachte. Die nach dem Krieg niedergeschriebenen neuen „10 Gebote“ ihres Vaters waren Grundlage für ihre im Jahr 2000 geschriebene Kantate „Can heaven be void?“, die 2003 in Berlin uraufgeführt und an diesem Abend eingespielt wurde. Für ihren Vater existierte nach seinen furchtbaren Erfahrungen Gott nicht mehr, war „der Himmel leer“. In der Shoah hatte er nicht nur seine erste Frau Peppa und seinen dreijährigen Sohn Lunek, sondern auch seinen Neffen und die meisten seiner Verwandten verloren.

In dem Buch „Ein Lied für meinen Vater“ wechseln erschütternde Passagen aus dem Tagebuch des Vaters mit Ella Milch-Sheriffs eigenen Erinnerungen. Ihre Identität als israelische Jüdin und Musikerin spiegelt sich in den furchtbaren Erfahrungen ihres Vaters wider. Die wechselnden Perspektiven zwischen Vater und Tochter zeigen nicht nur, wie eng Gegenwart und Vergangenheit miteinander verflochten sind, wie Traumata und Gewalt an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wurden und auch bei diesen tiefe Wunden hinterlassen hat.

Dass es zu diesem Buch gekommen ist, verdankt Ella Milch-Sheriff ausgerechnet einer Deutschen: Ingeborg Prior hatte sie bei der Aufführung ihrer Kantate in Düsseldorf angesprochen, und sie durch das rasch wachsende Vertrauen ermutigt, ihre und die Geschichte ihres Vaters zu erzählen. Beide Frauen sind heute engstens befreundet.

Ella "outet" sich gleich zu Beginn als überzeugte Israelin, indem ihr auffällt, dass sie heute das erste Mal als Jüdin vorgestellt worden sei, obwohl sie doch eigentlich "Israelin" sei. Später wird sie sagen, dass es einfacher für sie war, als Israelin denn als Jüdin nach Deutschland zu kommen.
Ella "outet" sich gleich zu Beginn als überzeugte Israelin, indem ihr auffällt, dass sie heute das erste Mal als Jüdin vorgestellt worden sei, obwohl sie doch eigentlich "Israelin" sei. Später wird sie sagen, dass es einfacher für sie war, als Israelin denn als Jüdin nach Deutschland zu kommen.

Während Ingeborg Prior aus den Erinnerungen ihres Vaters vortrug, schlüpfte Ella in die Rolle des Vaters, was die Spannung der Lesung steigerte, denn sie identifizierte sich jetzt völlig mit dem lange Unverstandenen. Besonders bewegend die Schilderungen ihres Vaters, der nicht nur den Tod seiner engsten Familie, sondern auch miterleben musste, wie sein Bruder aus panischer Angst vor der Entdeckung durch die Nazihäscher seinen eigenen Sohn zum Ersticken brachte. Hier verstand Ella, dass ihren Vater nicht nur Schuldgefühle plagten, da er seine engste Familie nicht retten konnte, sondern auch weil er in einer schier aussichtslos erscheinenden Lage nicht eingeschritten war, um den eigenen Neffen zu retten.

Ingeborg Prior liest aus Ellas Erinnerungen
Ingeborg Prior liest aus Ellas Erinnerungen

Jahrelang ertrugen Ella und Shoshana die Tyrannei des Vaters und die düstere Atmosphäre ihres Elternhauses, nie fragten sie nach dem Grund dafür. Zwar hatten Ella und ihre Schwester das Gefühl, dass ihre Eltern viel über den Holocaust sprachen, doch seine ganz persönliche Geschichte hatte er seinen Kindern nie erzählen können. Mit dem Buch hatte sich Ella von der schweren Last der Vergangenheit befreit, so der Eindruck bei vielen im Publikum.

Ella trägt aus dem Tagebuch des Vaters vor.
Ella trägt aus dem Tagebuch des Vaters vor.

Diskussion:

Ein Zuhörer wollte wissen, woher Ella die Kraft genommen habe, sich mit diesem Buch erneut der Geschichte ihres Vaters zu stellen, und wie sie damit leben könne. 8

Ohne die Begegnung mit Ingeborg Prior, so Ella, wäre dieses Buch vermutlich nie entstanden, so Ella. Nie zuvor habe sie sich einem Menschen so geöffnet, auch nicht ihrer eigenen Familie. Mit dem Buch wolle sie das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen thematisieren und zur Verständigung beitragen, damit sich so etwas wie der Holocaust nie wiederholen könne.

Durch ihre Erfahrung mit den Eltern habe sie früh versucht, am Leben ihrer Söhne teilzuhaben, was manchmal zu Konfrontationen und Auseinandersetzungen geführt habe. Durch Ingeborg, die sie oft in Israel besucht und ihre Familie kennen gelernt hatte, habe sie schließlich „auch mehr über die Gedanken ihrer Söhne erfahren“. Diese verstünden heute ohne Worte, warum sie manchmal traurig sei und nähmen sie dann einfach in den Arm.

Das Tagebuch ihres Vaters sieht Ella „als großes Geschenk“. Nur durch seine Existenz könne sie über die Geschichte der Shoah, vor allem aber von seiner Geschichte berichten. Inzwischen sei dieses Tagebuch mit dem Titel „Can Heaven be Void?“ aus dem Hebäischen auch ins Englische und Polnische übersetzt worden. Ingeborg Prior hat Passagen für ihr gemeinsames Buch ins Deutsche übersetzt. Besonders bewegt zeigte sich Ella von der Einladung der polnischen Klinik, an der ihr Vater nach dem Krieg, unter dem polnisch-christlichen Namen Jan Zielinski, Direktor gewesen war. Nächste Woche werde sie dort aus seinem/ihrem Buch vortragen.

„Wir müssen an die Geschichte erinnern, davon sprechen, durch Kunst, Literatur, Malerei und Musik“. So versteht Ella „Ein Lied für meinen Vater“ nicht nur als dessen Vermächtnis, sondern auch als Mahnung für die Zukunft. Besonders junge Leute wolle sie erreichen, denn nur sie seien die Garantie dafür, dass die Geschichte nicht in Vergessenheit gerate und Lehren für die Zukunft daraus gezogen würden.

Als sie in den 80er Jahren mit ihrem Mann Noam das erste Mal nach Deutschland kam, so Ella, habe sie sich kaum getraut, ihrem Vater davon zu berichten, ihren Sohn sollte sie später in Israel zur Welt bringen. Doch ihr Vater habe sie damals ermutigt, schließlich sei ihr Aufenthalt damals doch beruflich bedingt gewesen. Das hatte ihr sehr geholfen. Zwar glaube sie nicht an Gott, dennoch sei sie fest davon überzeugt, dass ihr Vater heute zu ihr sagen würde: „Du machst es richtig, mein Kind“.

In seinem Testament hatte Dr. Baruch Milch den Wunsch geäußert, seine Kinder mögen seine Aufzeichnungen veröffentlichen. Nach den während der Verfolgung geschriebenen Originalmanuskripten hatte er Zeit seines Lebens vergeblich gesucht. Zwei Monate nach seinem Tod im Jahr 1992, so Ella, habe sich eine polnische Journalistin bei ihr gemeldet, die wusste, dass ihr Vater danach gefahndet hatte. Die Originalschrift ist inzwischen Eigentum des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau.

Da Ella Milch-Sheriff im Publikum einflussreiche Gäste wähnte, appellierte sie am Ende der Veranstaltung an das Publikum, ihr dabei zu helfen, das Originaltagebuch ihres Vaters „nach Israel“ zu bringen, denn hier gehöre es hin. Nicht nur der Vorsitzende der DIG, Jochen Feilcke, sondern auch der Vorsitzende der DPGB, Christian Schröter, sagten Hilfe zu. Dabei fielen u.a. die Namen des früheren polnischen Botschafters, Andrzej Byrt, und der früheren Präsidentin der „Viadrina“ in Frankfurt/Oder Gesine Schwan. Wir hoffen sehr, dass Ellas sehnlichster Wunsch, das Originaltagebuch, das sie gemeinsam mit ihrer Schwester Schoschana in Warschau nach dem Tod des Vaters einsehen konnte, bald erfüllt wird.

Ella Milch-Sheriff beim Signieren des Buches
Ella Milch-Sheriff beim Signieren des Buches
Ingeborg Prior im Gespräch mit Bernd Streich.
Ingeborg Prior im Gespräch mit Bernd Streich.

Mehr Informationen:

Share this post