„Ich bin sozusagen in den Eimer gefallen“
Jael Botsch-Fitterling erzählt über ihre Kindheit in Israel und die Staatsgründung im Jahr 1948
Die Karteikarten mit den wichtigsten Stationen ihres Lebens braucht sie eigentlich gar nicht. Aus Jael Botsch-Fitterling sprudeln die Erinnerungen auch ohne Gedächtnisstütze nur so heraus, eineinhalb Stunden lang. Wie ein Gebirgsbach im Karmel, den sie so geliebt hat, fließen sie dahin, verzweigen sich, verlieren sich manchmal fast. Dann muss Maya Zehden, Moderatorin des Abends, ihre Duz-Freundin sanft an die Zeit erinnern. Obwohl das Publikum – der Saal im Gemeindehaus in der Fasanenstraße ist an diesem Donnerstagabend voll – gebannt zuhört.
Es ist ein deutsch-israelisches Leben. Oder ein israelisch-deutsches? Man weiß nicht, was bei Jael Botsch-Fitterling vorne steht. Die längste Zeit hat sie in Deutschland verbracht, davon 60 Jahre in Berlin. Die intensivste Zeit aber, nämlich ihre Kindheit, in Israel. Noch immer, sagt sie, ermüdet sie das Lesen von links nach rechts. Das Hebräische ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hat es in der Schule gelernt, nennt es ihre „Sozialisationssprache“. Ihre Eltern allerdings sprachen zuhause deutsch. Das war ihre Muttersprache.
Der Vater zog schon im Mai 1933 von Berlin nach Palästina, nachdem er zusammengeschlagen und ihm die Stelle als Wirtschaftsjournalist gekündigt worden war. Ihm war früh klar, was kommt. Er überredete auch andere Angehörige, ihm zu folgen. Seiner Konsequenz, sagt Botsch-Fitterling, sei es zu verdanken, dass die Familie fast keine Opfer der Shoa zu betrauern hat.
Jael erzählt lebendig aus jenen 30er Jahren, die sie selbst nur aus Erzählungen kennt. Ein Freund der Familie hat ihr damals mit vielen anderen Büchern drei Almanache geschenkt, die sie als Anschauungsmaterial zum Vortrag mitgebracht hat. Sie sind aus den 1940er und 50er Jahren und so alt und zerbrechlich, dass sie nur angeschaut und nicht angefasst werden dürfen. „Da stehen die Adressen aller Verwaltungen der britischen Besatzung und die Namen der Angestellten drin“. Ihr Vater arbeitete als Fahrer auf der Buslinie 14 von Haifa nach Nahariya. Bei den Fahrten lernte er eine junge Frau aus Hamburg kennen, die in Deutschland ihr Medizinstudium abbrechen musste. Jaels Mutter. Beide heirateten. Die Familie zog umher, aber Naharyia wurde bald zur neuen Heimat. Das Paar baute dort ein Haus und produzierte auf dem Grundstück Obst und Gemüse für Restaurants. Darunter Spargel, eine große Besonderheit. Geboren wurde Jael Botsch-Fitterling 1941 im Hadassah Hospital Mount Scopus in Jerusalem. Weil die Mutter unter den Wehen nicht so laut schrie wie die anderen, musste sie auf dem Flur warten und bekam dort ihr Kind. „Ich bin sozusagen in den Eimer gefallen“, sagt die heute 81 jährige Jael mit jenem leichten Witz, der ihren ganzen Vortrag durchzieht.
Was Botsch-Fitterling erzählt, ist die Geschichte von Siedler-Pionieren, die Geschichte von Armut und Durchhaltewillen, von Zukunftsplänen und Rückschlägen. Es ist auch die Geschichte der gewaltsamen Konflikte mit Arabern und Briten. Auch der Vater war betroffen; er wurde in seinem Bus in Akko bei einem Bombenanschlag schwer verletzt. In Europa tobte der Zweite Weltkrieg. Auf dem Meer landeten illegale jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, aber überwiegend aus Osteuropa, an; die mußten versteckt werden. Für ihre Eltern eine Selbstverständlichkeit. Einmal öffnete die kleine Jael einen Schrank im Haus – und fand einen fremden Mann darin. Ihr Vater transportierte die Flüchtlinge mit dem Bus weiter. Lebhaft erinnert sich Botsch-Fitterling an eine nächtliche Fahrt durch das Gebirge an der Grenze zum Libanon. Ohne Licht und nahe am Abgrund. „Mutter stieg aus und hat uns dirigiert. Hinten hat sie an jeder Serpentinenkurve Steine unter die Reifen gelegt, um den Bus zu sichern.“
Und dann kommt die Zeit der Staatsgründung vor fast 75 Jahren. Jael erlebte sie als Kleinkind, sie verstand wenig. Schon 1947 begannen harte, verlustreiche Kämpfe im Galil, die ihre Familie miterlebte. Es war zwar etwas Gutes und die Menschen draußen feierten in der Nacht der UNO-Abstimmung, aber die Kinder mussten wegen der Angriffe der Araber in der der Nähe im Haus bleiben. Unter der Straße vor ihrem Haus gab es einen trockenen Wassergraben. „Das war unser Bunker“, sagt Jael Botsch-Fitterling. Aus irgendeiner Intuition heraus wollte die Mutter, dass die Familie das Haus verlässt, nur 700 Meter weiter zieht. Sie setzte es durch. Kurz danach explodierte eine Bombe vor dem alten Haus, eine Wand stürzte ein. Nach innen, dort wo ihr kleiner Bruder geschlafen hätte. Angst? „Wir hatten Angst vor Schakalen im Garten“, sagt Jael Botsch-Fitterling. „Aber sonst nicht. Nein, wir hatten nie Angst“. Unmittelbar nach der Ausrufung des Staates Israel durch David Ben Gurion am 14. Mai 1948 begann der Krieg der sieben Nachbarstaaten. Erst nach dessen Ende konnte die Familie wieder in ihr Haus in Nahariya zurück, aus dem sie 1947 wegen der Unruhen nach Kiriyt Bialik zu Jaels Großeltern geflüchtet waren.
1957 zog die Familie nach Deutschland zurück. Die Eltern nach Frankfurt, Jael später zum Studieren nach Berlin. Wo sie viele Spuren hinterlässt, nicht nur in ihren 40 Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin für Chemie, Biologie und Physik, sondern vor allem mit ihrem ehrenamtlichen Wirken in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und in der Jüdischen Gemeinde. Zusammen mit ihrem zweiten Mann Dieter Fitterling hat sie die Spiegelwand am Rathaus Steglitz durchgesetzt. Sie ist eine durch und durch politische Frau, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg hält. Wie sie die aktuelle Situation in Israel beurteile, wird aus dem Publikum gefragt. Ihre Antwort: So ärgerlich sie die Politik der Regierung finde, so erfreulich sei es, dass so viele Menschen auf die Straße gingen. „Nur für die Demokratie, für nichts anderes“. Israel ohne Demokratie ist für Jael Botsch-Fitterling nicht vorstellbar. Wenn dieser Text erscheint, befindet sie sich schon wieder auf dem Weg in das Land ihrer Kindheit. Mit ihrem Enkel, dem sie alles zeigen will.
Werner Kolhoff