Bericht: Referat und Podiumsdiskussion: „Nicht immer, aber immer wieder“:
Unausgewogenheit, Halbwahrheiten und Fehler in der Berichterstattung über Israel am
4.4.2023 im Deutschen Journalisten-Verband (DJV) Berlin – Journalistenverband Berlin-
Brandenburg; DJV Berlin – JVBB
„Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge“
Die mediale Berichterstattung über Israel besteht aus „halben Wahrheiten“ – ganz wie in dem alten jüdischen Sprichwort. Meistens jedenfalls. Darüber bestand Einigkeit bei den Diskutanten der Podiumsrunde und den 90 Zuhörern, darunter viele Journalisten. Israel ist in den Medien oft einfach „der Aggressor“. Doch welche Konsequenzen hat diese Einseitigkeit für den öffentlichen Diskurs über Israel und jüdisches Leben bei uns? Welches sind ihre Ursachen? Lässt sich daran etwas ändern, und wenn ja, wie? Einfache Antworten oder gar Rezepte hatte niemand – auf dem Podium nicht und auch nicht im Publikum. Also Resignation? Nein! Wie kann es besser werden? – das war das Leitmotiv des Abends.
Susanne Stephan, stellvertretende Vorsitzende des DJV Berlin – JVBB, sagte in ihrer Begrüßung: Erstaunlich viele Journalisten interessierten sich für Israel, besonders für die aktuelle Diskussion über das Rechtssystem dort und die Opposition, obwohl ihnen Außenpolitik sonst „schnuppe“ sei. „Dies kann segensreich sein, ist es aber nicht immer.“ Diskussionsleiterin Maya Zehden (DIG): „Die Macht der Bilder ist groß, jeder ist heute selbsternannter Nah-Ost-Experte“. Jedoch: „Die Bilder aus Gaza, die wir hier sehen, werden ohne Juden und jüdische Israelis erzeugt, denn die dürfen die Region aus Sicherheitsgründen gar nicht betreten.“ Für gründliche Recherche fehlten oft Zeit und Geld.
Das Ergebnis: einseitige Blickwinkel – „halbe“ Wahrheiten. Jörg Gehrke, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag, belegte dies in seinem Vortrag mit Zitaten aus FAZ, Stuttgarter Nachrichten, Deutsche Welle, ZDF, Deutschlandfunk: „Israel greift an“ – die Standardformulierung. „Israel greift Waffenfabrik der Hamas an“, „Israel fliegt Luftangriffe“, „Israel greift Ziele im Gaza-Streifen an“. Beispiele aus den Jahren 2020 bis 2022. Eher nebenbei wird – falls überhaupt – berichtet, dass die Hamas zuvor Israel mit Raketen beschossen hatte. Der Deutschlandfunk schrieb Anfang 2022: „Widerstand in Gaza hat Raketen abgefeuert“ – Widerstand? Arabische Kommentare unter den Fotos würden manchmal einfach übernommen, kommentierte Gehrke. „Demo auf dem Tempelberg eskaliert“ – aber auf dem Foto dazu sieht man prügelnde Palästinenser. „Gebetsstätten für Juden und Christen auf dem Tempelberg“, schrieb der Spiegel, obwohl es die dort gar nicht gibt. Der Deutschlandfunk zeigte ein Bild der Botschaft des Staates Israel mit der Unterschrift: „Jüdische Botschaft“. Der Sender entschuldigte sich später dafür.
Medienberichte nehmen auch auf die Geschichte Israels Bezug. Vergleichen das alte Israel mit dem heutigen Staat. Gut so? Leider nein. „Es werden immer wieder Halbwahrheiten erzählt“, findet Jörg Gehrke. Gerne werde die „Nakba“ („Katastrophe“) thematisiert, die Flucht von Arabern während der Staatsgründung Israels. Formulierungen wie: „Es kam zum Krieg“, obwohl die arabischen Staaten angegriffen haben. Titulierung des Sechs-Tage-Krieges als „Bürgerkrieg“ bei Phoenix. „Einen arabischen Angriff gab es da gar nicht.“ „Palästinensisches Land wurde besetzt“, obwohl es vor dem Krieg zu Jordanien gehörte. „Es gibt“ so Gehrke, „sehr viele und immer wieder neue Falschbehauptungen“.
Seit Jahren veröffentlicht Gehrke Tweets dazu, stellt falsche Behauptungen richtig, legt Beschwerden ein. Oft mit Erfolg. Phoenix hat seine Dokumentation „The Wall“ komplett überarbeitet, „aber dies nicht öffentlich gemacht“. Der Bayerische Rundfunk änderte nach seinem Protest die Überschrift „Kneipen-Schießerei in Tel Aviv“ in eine korrekte Formulierung zu diesem Terroranschlag um. Die Deutsche Welle, von Gehrke am häufigsten wegen Fehlern kritisiert, arbeitet seit 2020 an einer korrekteren Israel-Berichterstattung. Gehrke dazu: „Es geht nicht darum, ob Israel kritisiert werden darf. Ja natürlich darf man das. Aber die Kritik muss sachlich stimmen.
“Schwerer als Kritik wiege oft das, was nicht gesagt werde, meinte Esther Shapira, Buchautorin und frühere Leiterin der Abteilung Politik und Gesellschaft beim Hessischen Rundfunk. So werde Israel oft vereinfachend als „starke westliche Macht“ dargestellt. Schlagseiten und Auslassungen in den Berichten seien Ausdruck einer unbewussten Haltung, einer Befangenheit. „Wenn es um Israel geht, bin auch ich befangen“, sagte Shapira. „Wir sehen gerne Bilder, die zu denen in unserem Kopf passen.“ Jeder müsse sich dessen bewusst sein. „Wenn man sagt: ich blicke nicht mehr durch, dann geht das ja noch. Aber die meisten denken, sie blicken durch.“ Das sei gefährlich für Israel. Denn wenn es in Israel eskaliert, dann eskaliere es auch für die Juden hier bei uns. „Ich bitte die Kollegen, sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein.“
Genau darum bemühe sich seit langem der Springer-Verlag, betonte Gunnar Schupelius, Chefkommentator der BZ und Sachbuchautor. Man versuche, ein möglichst neutrales Bild von Israel zu zeichnen. Die Folge seien Bedrohungen, von Links- und Rechtsextremisten sowie von arabisch-türkischer Seite. Viele Medien suggerierten, man müsse Angst vor Israel haben. Sogar im privaten Umfeld höre er dies. Seit dem Sechs-Tage-Krieg gelte das Land allgemein als Aggressor. „Auch unsere Redakteure haben sich manchmal falsch orientiert. Denn in Wirklichkeit ist Israel ein Garant für Stabilität im Nahen Osten, das wissen die arabischen Länder sehr gut.“ Jenseits der militärischen Konflikte erfahre man in der Presse wenig über Israel. „Dabei steht uns dieses Land doch kulturell sehr nahe, die Justizreform ist ein fantastisches Beispiel für demokratische Auseinandersetzung.“
Die Deutsche Welle, so erläuterte deren Experte für Religionspolitik und ehemaliger DAAD- Stipendiat in Jerusalem, Christoph Strack, bemühe sich um eine grundlegende Umstellung ihrer Israel-Berichterstattung. Es habe Fehler gegeben. Aber die Mitarbeiter würden seit 2022 dazu extra geschult. „Wir arbeiten jetzt nach dem Sechs-Augen-Prinzip.“ Denn: „Antisemitismus wollen wir nicht mehr.“ Zum Beispiel würden Terroristen oft als Märtyrer bezeichnet. Woran das liegt? „Im Arabischen hat das Wort Märtyrer eine andere Bedeutung als bei uns. Daher können wir dieses Wort nicht einfach übernehmen.“ Mehr Sensibilisierung, mehr Respekt, Vorurteile überwinden – hier haben Journalisten noch viel zu tun. Darüber war sich die Diskussionsrunde einig. Esther Shapira, die für ihre Reportagen zahlreiche Preise bekommen hat, fand: „Zähe kleinteilige Arbeit ist wichtig. Immer wieder nachhaken. Einzelne Fehler sind nicht schlimm. Aber: Wie kriegen wir es gemeinsam hin, anders ins Gespräch zu kommen?“ Es gebe leider, so Shapira, in der öffentlichen Diskussion und in der Presse eine „Verweigerung, neue Gedanken zu haben“. Ein Beispiel sei das Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung. „Unendlich lange dreht sich alles im Kreis, ebenso lange, wie sich der reale Konflikt selbst hinzieht.“ Ein anderes Beispiel: das Wort „Apartheitsstaat“. Auch in Israel werde das Wort verwendet und diskutiert. „Das ist auch gut so.“ Dennoch müssten wir uns hier korrekt ausdrücken. „Fehler werden nicht dadurch besser, dass man sie in Israel auch macht.“
Gunnar Schupelius schlug als Ausweg eine Richtlinie für die Intendanten der öffentlich- rechtlichen Fernsehanstalten vor. Shapira widersprach: „Ich will keine Vorschrift, wie ich als Journalistin zu berichten habe. Nötig ist eine veränderte Bereitschaft, den Blick zu weiten.“ Der DIG-Vorsitzende Volker Beck, als Zuhörer im Publikum, wünschte sich „Fehlerkorrekturen“ bei der ARD. Nicht falsche Berichte, sondern eine „falsche Haltung dazu“ sei das Problem. „Wie kriegen wir die Institutionen dahin, mit uns über die Ursachen ihrer Fehler zu reden?“
Einer der Journalisten im Saal meinte: „Wenn es um Israel geht, sind wir alle befangen. Stimmt. Aber wir haben miteinander geredet. Lasst uns das weiter tun. Wir müssen Konflikte aushalten, das ist unsere Aufgabe. Lasst uns reden und Verantwortung übernehmen, dann haben wir alle gewonnen.“
Gudrun Küsel
Fotos: Margrit Schmidt