Bericht: Siedlungen und die aktuelle Situation in den palästinensischen Autonomiegebieten während Corona

© Jörg Gehrke, Referentin Chaya Tal mit Mitgliedern des Vorstandes der DIG Berlin und Brandenburg
Ein Bericht über die Veranstaltung mit Chaya Tal am 8. Oktober 2020 in Berlin von Dr. Nikoline Hansen

Im Sommer 2014 reifte bei Chaya Tal spontan der Entschluss, nach Gush Etzion zu ziehen. Das war direkt nach der Ermordung von drei Jugendlichen, die 18 Tage lang als vermisst galten: Naftali Frankel, Eyal Yifrach und Gilad Shaar waren am 12. Juni entführt und kurz darauf kaltblütig erschossen worden. Ein eigenwilliges Motiv, an einen Ort zu ziehen, der in vielerlei Hinsicht umstritten und gerade Schauplatz eines aufsehenerregenden Verbrechens geworden ist. Aber Chaya Tal, die am 8. Oktober 2020 auf Einladung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg aus ihrem Leben in der Siedlung und über die gegenwärtige Situation in Israel berichtete, ist durch nichts so leicht aus der Ruhe zu bringen – und eine klare Haltung hat sie auch: Sie möchte in Israel mit ihren arabischen Nachbarn in Frieden leben.

Was hat es mit den Siedlungen auf sich? Israel ist ein kleines Land, das seine Nachbarn am liebsten von der Landkarte gelöscht sehen würden. Und doch ist es seit dem 14. Mai 1948 Realität. Dabei haben sich, seit mit dem Sechstagekrieg 1967 der Versuch der arabischen Nachbarstaaten erfolgreich abgewehrt wurde, den jüdischen Staat zu vernichten, die Grenzen verändert: Denn Israel hatte, getreu dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ im Zuge dieser Auseinandersetzung Gebiete erobert, die nicht zu den ursprünglich festgelegten Staatsgrenzen gehörten, die für die militärische Verteidigung des Landes allerdings wichtig waren. Insbesondere die Golanhöhen, aber auch der Sinai als Pufferzone, das Westjordanland und nicht zuletzt Jerusalem waren Zugewinne, die erst einmal Sicherheit boten, aber gerade in Jerusalem auch Symbolcharakter hatten: Erstmals seit der Staatsgründung betraten Juden wieder den Tempelberg, sie stehen wieder an der Klagemauer – ein Foto der andächtig schauenden Soldaten wird zum Symbol des Sieges.

Nicht nur der Status Ostjerusalems ist umstritten, auch Teile der schon in der Bibel erwähnten Landstriche Judäa und Samaria, die zum Westjordanland gehören, sind seit 1967 unter israelischer Militärhoheit. Fakt: Der fragliche Landstrich ist 127 km lang, an der schmalsten Stelle 33 km und an der breitesten Stelle 55km breit. Die Gesamtfläche beträgt 20,7% der Gesamtfläche Israels (ohne Gazastreifen und Ostjerusalem). Das Gebiet war jüdisch, wurde von den Römern erobert und erhielt zu dieser Zeit den Namen Palästina, gehörte von 1516-1918 zum Osmanischen Reich und war von 1922-1948 britisches Mandatsgebiet. 1949 wurde es von Jordanien annektiert. Während der gesamten lebhaften Geschichte unter wechselnder Herrschaft gab es auch jüdische Bevölkerung in diesen Gebieten, eine jüdische Gemeinden existierte bis 1929 in Hebron, in Gush Etzion siedelte sich 1927 eine Gemeinde in Kfar Etzion an, das Zusammenleben mit den arabischen Nachbarn verlief weitgehend friedlich. Ab 1967 entstanden neue jüdische Siedlungen in diesem Gebiet, 1971 erfolgte die Rückkehr nach Hebron. Heute leben dort etwa 435.000 Juden, deren etwa 150 Gemeinden unterschiedlichen Charakter haben: religiös, säkular, ultraorthodox und gemischt. Es gibt vier Städte: Beitar Illit, Ma’ale Adumin, Modi’in Illit und Ariel, wo es auch eine Universität gibt. Im Osloer Abkommen wurde das Gebiet 1995 in drei Zonen aufgeteilt: Die jüdischen Siedlungen liegen alle im sogenannten C-Gebiet und sind dem israelischen Militär (IDF) sowie der israelischen Regierung unterstellt. Es umfasst 61% von Judäa und Samaria. Das B-Gebiet, das 21% umfasst, wird vom israelischen Militär kontrolliert, ist aber der palästinensischen Zivilverwaltung unterstellt. Das C-Gebiet, in dem 98% der palästinensischen Bevölkerung wohnen, ist ebenfalls der palästinensischen Zivilbevölkerung unterstellt, israelischen Zivilisten ist der Zutritt untersagt. Insgesamt leben etwa 2 – 2,5 Millionen Palästinenser in ca. 270 Dorf- und Gemeindeverwaltungen sowie 27 Städten. Dazu zählen Hebron (ca. 209.000), Nablus (ca. 150.00), Ramallah (ca. 34.000) und Bethlehem (ca. 31.000). Von den Gemeinden sind zwölf christlich, eine samaritisch und alle anderen muslimisch. 1996 wurde Hebron im sogenannten Hebron-Abkommen in zwei Zonen eingeteilt, wobei H1 palästinensisch und H2 von der IDF verwaltet wird.

© Jörg Gehrke

Trotz dieser komplizierten Regelungen gestaltet sich das Zusammenleben vor Ort in der Praxis eher unkompliziert. Ein Problem bereitet vor allem der Terror, der immer wieder Opfer fordert und in der Regel national, religiös oder sozial motiviert ist.  Wenn man bedenkt, wie verflochten das Zusammenleben der jüdischen und arabischen Bevölkerung in dieser Gegend ist und insbesondere, dass der Hass gegen Israelis quasi offizielle Staatsdoktrin der palästinensischen Regierung ist, scheinen lokale Nachbarschaftsprojekte und persönliche Kontakte der beste Weg zu sein, gegen diesen Hass anzugehen. 2019 hatten etwa 120.000 palästinensische Arbeiter eine Arbeitserlaubnis in Israel, davon etwa 25.000 in Siedlungen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der arabischen Bevölkerung von Israel ist groß. Dazu kommen noch einmal etwa 20.000, die in Israel ohne Erlaubnis arbeiten. Die meisten Verkehrsstraßen innerhalb des Gebietes werden gemeinsam genutzt, nur auf der Autobahn 443, die Jerusalem umfährt, gibt es eine Fahrbahntrennung. Auch große Einkaufszentren und Tankstellen außerhalb der Siedlungen werden gemeinsam genutzt. Die IDF und die palästinensische Zivilverwaltung haben bis Mai 2020 gut zusammengearbeitet, seitdem ist die Situation allerdings komplizierter geworden, da die palästinensische Regierung die Friedenspläne der amerikanischen Regierung ablehnt. Die Projekte vor Ort, die nach alternativen Lösungsansätzen suchen, haben es schwerer. Auch das Friedensabkommen der Vereinigten Arabischen Emirate mit Israel hat die Situation vor Ort nicht einfacher gemacht, da die meisten Palästinenser Frieden mit Israel ablehnen und Verhandlungen als Verrat betrachten. Das ist auch ein Problem, das die direkte Begegnung zwischen Israelis und Palästinensern erschwert, da der Kontakt für Palästinenser immer mit einem Risiko verbunden und gegebenenfalls gefährlich ist. Trotzdem schafft es die Graswurzelbewegung Roots, die im Andenken an den Rabbiner Menachem Froman 2014 gegründet wurde, Begegnungen zwischen Juden und Palästinensern zu ermöglichen. Im Vorstand der NGO sind ein israelischer Rabbiner und ein Palästinenser aktiv. Das Ziel ist gegenseitiges Verständnis zu fördern, für Gewaltlosigkeit einzutreten und eine Transformation zwischen Israelis und Palästinensern zu schaffen. Dies geschieht und anderem durch gemeinsame Feiern, Nachbarschaftstreffen und Kinderaktivitäten. Die Erfolgsaussichten? In der Politik werden sie als gering eingestuft, aber vor Ort helfen sie ein friedliches Zusammenleben ohne Grenzen zu ermöglichen. Wobei es hilfreich sei, so Chaya Tal, dass der palästinensische Partner in diesem Projekt einem angesehenen arabischen Clan angehöre, er damit also in seiner Handlungsfreiheit gestärkt sei und keine Repressalien durch die Regierung befürchten müsse.

Die Siedlungen als Friedenshindernisse? Dazu müsse man erst einmal definieren, was Frieden sei. Frieden habe viele Gesichter, es komme auf den Willen zum Frieden an. Alternative Friedensprojekte und Lösungen könnten helfen, diesen Willen zu stärken. Es stelle sich ja bei allen Lösungsansätzen auch die Frage, ob man 450.000 Menschen aus ihren Häusern werfen wolle.

Der Trump-Plan? Schweizer Käse – er funktioniere nur mit Zäunen und Grenzen, das sei aber keine nachhaltige Lösung. Ihr schwebe als Lösung ein föderalistisches System vor, das Bewegungsfreiheit ermögliche und keine physische Teilung nötig mache. Dazu wäre es auch hilfreich, wenn sich die palästinensische Verwaltung mehr um das Wohl der Bevölkerung bemühen würde. Die Situation vor Ort sei katastrophal, das Gesundheitssystem nur ein Beispiel. Corona würde derzeit zur Ausnutzung der Macht gegenüber den Bürgern missbraucht, es gebe keine oder nur geringe Unterstützung der Arbeitslosen, Gehälter würden nicht ausgezahlt und die Wirtschaft sei schwer beschädigt.

Bewundernswert, dass Chaya Tal trotz dieser derzeit schlechten Aussichten den Mut nicht verliert sondern sich weiter aktiv in den lokalen Projekten „Friends of Jahalin, das heimatlose Beduinen unterstützt, sowie Roots engagiert und für eine bessere Welt kämpft – und für ein friedliches Zusammenleben der Bewohner in Israel. Wer mehr über das von Chaya Tal  unterstützte Projekt erfahren will kann Informationen auf der Internetseite der NGO https://www.friendsofroots.net/ finden. Danke für einen inspirierenden Vortrag!

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