Nach dem Coup, eine grosse Koalition zu bilden, gibt es eine neue Chance für Verhandlungen mit den Palästinensern. Es lohnt sich, den Friedensplan von Shaul Mofaz genauer in Augenschein zu nehmen.
Aus offensichtlichen Gründen hat die politische Bombe der letzten Woche sowohl die Bürger als auch die Kommentatoren in Israel mit offenem Mund dastehen lassen. Es wurde darauf hingewiesen, dass Binyamin Netanyahu heute der unbestrittene König der israelischen Politik ist: Grundsätzlich besitzt kein einziger seiner Koalitionspartner für sich genommen wirkliche Macht über ihn. Jeder einzelne von ihnen weiss jetzt, dass Netanyahu ohne sie leben kann.
Natürlich erklärten Netanyahu und Shaul Mofaz, dass sie ihren Schritt nur im Interesse des Allgemeinwohls getan haben, und natürlich nehmen die meisten Israeli ihnen das nicht ab, sind die politischen Interessen doch nur allzu klar (vgl. tachles 19/12).
Nach all diesen Bemerkungen und der Nennung von Gewinnern und Verlierern sollten wir uns die neue Situation von Israel nüchtern anschauen: Was können wir erwarten, und welches sind die wichtigsten Entscheidungspunkte für Netanyahus neue Koalition?
Mehr Verhandlungsspielraum
Sowohl die in- als auch die ausländische Presse Israels ist voll auf Iran fokussiert. Israelische Kommentatoren tendieren dazu, zu unterstreichen, dass die Koalition von Wand zu Wand Netanyahu mehr Verhandlungsspielraum gewährt, während die internationalen Medien hoffen, dass Mofaz eine vorsichtigere Position hinsichtlich militärischer Interventionen in die Regierung einbringt.
Der meiner Ansicht nach interessanteste Faktor ist bis jetzt aber kaum erwähnt worden: die im Koalitionsabkommen enthaltene Verpflichtung, die Verhandlungen mit den Palästinensern wieder aufzunehmen. Wie wir heute von Yuval Diskin, dem früheren Chef des Shabak-Geheimdienstes, wissen, war es eher Netanyahu als Präsident Mahmoud Abbas, der sich weigerte, zu verhandeln. Bis jetzt hatte er wenig Spielraum für Verhandlungen, da er der Gnade seiner rechtsgerichteten Koalitionspartner ausgeliefert war. Er tönte immer an, dass dies der Grund war, warum er sicherstellte, dass nichts geschehen würde.
Ich dachte nie, dass dies der einzige Grund für Netanyahus Treten an Ort an der palästinensischen Front war: Er hat nie daran geglaubt, dass es in Israels Interesse sei, einen lebensfähigen Staat entstehen zu lassen. Wo immer auch die Wahrheit liegen mag – seine Ausrede, die Koalition hindere ihn daran, in der palästinensischen Sache vorwärtszumachen, ist nicht mehr gültig. Mit den 28 Kadima-Abgeordneten im Regierungsbündnis hängt Netanyahu weder von Shas noch von Liebermans Israel Beiteinu ab.
Ein Friedensplan
Seit Langem schon befürwortet Mofaz, Netanyahus neuer Koalitionspartner, einen Friedensplan in zwei Stufen. Er schlägt vor, sofort einen Palästinenserstaat auf 60 Prozent der Westbank zu bilden, was über 99 Prozent der Palästinenser von der israelischen Herrschaft befreien würde. Das würde dann günstige Bedingungen für die Verhandlungen über die definitive Regelung schaffen. Der Plan des neuen Vizepremierministers Mofaz würde die Räumung einer Anzahl von Siedlungsaussenposten erfordern, die in den 60 Prozent des Gebiets liegen, die den Palästinensern abgetreten werden sollen.
Die Verwirklichung des Mofaz-Plans bedeutet das Ende des Traums von Gross-Israel. Sie würde einen Palästinenserstaat zur Tatsache machen, und die Frage wäre dann nur noch die des endgültigen Grenzverlaufs.
In den kommenden 18 Monaten wird also Netanyahus Moment der Wahrheit kommen: Bisher war sein Einstehen für die Zweistaatenlösung, wie er es 2009 in seiner Rede an der Bar-Ilan-Universität formuliert hatte, nichts anderes als ein Lippenbekenntnis. Ständig vermeidet er die Konfrontation mit den Siedlern und mit der grossen Fraktion in seiner eigenen Partei, die weiter an das Konzept von Gross-Israel glaubt. Wenn Mofaz seinen Plan auf den Tisch der neuen Regierung legt, wird Netanyahu entweder einen entscheidenden Schritt in Richtung auf ein Ende der israelischen Besetzung der Westbank und des 100 Jahre alten Konflikts mit den Palästinensern machen, oder er wird als der Mann in der Geschichte eingehen, der jede Option für ein solches Vorgehen zerstört hat.
Risiken eingehen
Viel Tinte ist bereits in der Diskussion der Frage geflossen, ob der Tod seines Vaters Netanyahu mehr Freiheit geben wird, kreativ zu handeln. Ich fürchte, das ist nicht der einzige Faktor: Netanyahus Charakter hat eine Abneigung gegen grossartige Schritte. Als hervorragender Taktiker fühlt er sich sicher, und der Erfolg seines letzten Manövers könnte seine Entschlossenheit fördern, weiter auf Zeit zu spielen, ohne wirkliche Entscheidungen zu fällen. Die Richtung, die er letztlich einschlägt, wird ebenso von seiner Abneigung bestimmt werden, Risiken einzugehen, wie von der Weltanschauung seines Vaters.
Sollte Netanyahu beschliessen, mit etwas in der Art des Mofaz-Planes weiterzumachen, wird für Mahmoud Abbas der Moment der Wahrheit kommen, denn es wird für ihn nicht leicht sein, diesen Weg einzuschlagen. Die Palästinenser fürchten, dass in irgendeinem Mehrphasenprozess, die Zwischenphase eines Palästinenserstaates auf 60 Prozent der Westbank sich zum endgültigen Status wandeln könnte. Ausgehend davon, dass es die Besatzung schon über 45 Jahre gibt, ist das Misstrauen mehr als verständlich. Abbas könnte sich in anderen Worten weigern, auf der Basis des Mofaz-Plans zu kooperieren, und er könnte verlangen, dass zuerst eine Übereinkunft für eine endgültige Lösung erreicht werde.
Herausforderung für Abbas
Das wäre meiner Meinung nach ein historischer Fehler. Abbas muss einsehen, dass die Israeli mindestens ein Jahrzehnt Frieden an der palästinensischen Front brauchen, bevor sie die Idee akzeptieren, dass die Palästinenser die 1967er-Grenzen erreichen und die israelischen Bevölkerungszentren in das Einzugsgebiet von Katjuscha-Raketen bringen werden. Der Mofaz-Plan könnte die physischen und politischen Bedingungen für ein solches Jahrzehnt des Friedens schaffen. Er würde das Leben der Palästinenser gewaltig verbessern und gleichzeitig Israels Sicherheit bewahren. Die Errichtung eines Palästinenserstaates mit vorübergehenden Grenzen würde die Positionen von Angehörigen der Ablehnungsfront auf beiden Seiten entscheidend untergraben. Sie würde der ideologischen Rechten in Israel klarmachen, dass ihr Traum sein Ende erreicht hat. Sollte eine neue Realität den Palästinensern tatsächlich mehr Freiheit und Würde geben, dann würde das Abbas stärken. Es würde den Palästinensern die Existenz eines politischen Horizonts beweisen und unterstreichen, dass sie mit einer Unterstützung der Ablehnungslinie der Hamas nur verlieren würden. Das wiederum würde die Hamas zwingen, in ein paar Jahren ihr politisches Programm zu ändern und Israels Existenz zu akzeptieren.
Abbas sollte sich daher mit dem Mofaz-Plan befassen, sobald dieser auf dem Tisch liegt. Ich bin mir dessen sehr bewusst, dass dies sehr schwierig für ihn sein wird. Seine Gegner werden ihm vorwerfen, das Interesse seines Volkes zu verkaufen und mit dem Feind zu kollaborieren. Er wird alle seine politischen Fähigkeiten benutzen müssen und den Führungsstatus, den er sich in den letzten Jahren angeeignet hat, um sein Volk davon zu überzeugen, dass dies der Weg zur Errichtung eines Palästinenserstaates ist und dass die Palästinenser auf lange Sicht davon nur profitieren werden.
Carlo Strenger wurde in Basel geboren, unterrichtet heute an der psychologischen Fakultät der Tel-Aviv-Universität und ist Mitglied des Permanent Monitoring Panel über Terrorismus der Weltföderation der Wissenschaftler.
Lesen Sie das Original in der Schweizerischen Zeitung Tachles vom 16.05.2012.