Die Historikerin Tamar Amar-Dahl fragt: Wo liegen die Ursachen für den jahrzehntelangen Nahostkonflikt – und welche Rolle spielen Israels Eliten? Ihre Antworten hat sie nun in einem Buch zusammengetragen, das interessant und provokant ist.
Von Dominik Peters
Es ist ein schönes Bild, das Wladimir Jankéléwitsch da zeichnet und Tamar Amar-Dahl dem Leser zur Einstimmung auf ihr Werk lesen lässt. Der Philosoph habe einmal gesagt, dass „das jüdisches Leben in der Diaspora so etwas wie eine Fahrt mit der U-Bahn“ gewesen sei. „Man fährt unter der Erde, sieht keine Landschaft und wird auch selbst in diesem Zug nicht gesehen. Erst in jüngster Zeit vollzieht sich das jüdische Leben so, als sei es eine Reise mit dem Bus.“
Der Weg von den osteuropäischen Schtetl in das levantinische Alt-Neu-Land wird da als befreiende Überlandfahrt beschrieben. Amar-Dahl vertritt jedoch die These, dass diese Darstellung nicht nur „die Händler aus Bagdad sowie den jemenitischen Schuster“ vergisst, die von den aschkenasischen Eliten des vorstaatlichen Jishuv „nicht als Träger dieser neuen Nation vorgesehen“ waren, sie ist auch davon überzeugt, dass es das Erbe jener Männer der zweiten und dritten Alijah sowie derer Söhne sei, welches einer friedlichen Koexistenz diametral entgegen stehe.
Krieg als integraler Bestandteil der politischen Ordnung?
Die Publikation der Historikerin ist interessant und die ihr zugrunde liegende These provokant: Israels Eliten aus Politik und Militär hätten über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass ein ausgeprägter Zivilmilitarismus die Demokratie zwischen Mittelmeer und Jordan kennzeichne, ja, dass „Kriege ein integraler Bestandteil“ der politischen Ordnung seien, dem staatsbildenden Zionismus arbeiterzionistischer Prägart demnach nicht defensiv sei, sondern – mit Ausnahme des Jom-Kippur-Krieges 1973 – offensiv.
Amar-Dahl stimmt damit nicht das altbekannte und wenig differenzierte Klagelied von den mittlerweile marginalisierten „Linkszionisten“ an, die Opfer eines immer offensichtlich werdenden Rechtsrucks innerhalb der israelischen Gesellschaft seien. Sie behauptet vielmehr, dass jene bereits vor der Staatsgründung dafür gesorgt hätten, ein „sozial-politisches Hinterland“ für einen zionistischen Zivilmilitarismus zu kreieren.
Fast wortgleich zum Merkel’schen Mantra der Alternativlosigkeit hätten die militärischen und politischen Entscheidungsträger der israelischen Zivilgesellschaft die Formel „Ein Brecha – Keine Wahl“ eingeimpft, dadurch jeglichen Diskurs über Sinn und Zweck militärischen Handelns entpolitisiert.
Maßgeblich hieran beteiligt sei Shimon Peres gewesen, der große alte Mann der israelischen Politik, der jedes wichtige Amt im Politbetrieb im Laufe seiner langen Karriere irgendwann inne gehabt hatte. Für den heutigen Staatspräsidenten war Israel nicht vom „fruchtbaren Halbmond“ umgeben, sondern einer arabischen „Riesenbanane“, die den Staat zwischen Mittelmeer und Jordan bedrohlich umschließe.
Max Nordaus Missionare gegen Achad ha-Ams „kulturlosen Asiatismus“
In Anlehnung an Edward Saids Orientalismus-These, so Amar-Dahl, sei diese Wahrnehmung nachvollziehbar, da sich in Israel ein „westlicher“ Zionismus durchgesetzt hätte, der auf seine arabischen Anrainerstaaten distanziert. Um dies zu belegen gräbt sie tief in den zionistischen Analen und lässt die nunmehr fast ein Jahrhundert zurückliegenden Grabenkämpfe zwischen Achad ha-Am und Max Nordau Revue passieren.
Ersterer, bekannt für seinen „Kultur-Zionismus“ wurde von Nordau vorgeworfen, seine Ideen von friedlicher Koexistenz zwischen Orient und Okzident, aus Europa eingewanderten Juden und ansässigen Arabern sei nicht mehr als eine Anbiederung an einen „kulturlosen Asiatismus“, wohingegen es doch eines der Ziele des Zionismus sei, „als Kultur-Missionare die moralischen Grenzen Europas bis hin zum Euphrat zu erweitern“.
Die Nordausche Interpretation, sei auch heute noch in gewisser Weise im Denken und Handeln der israelischen Eliten vorhanden, was katastrophale Folgen habe, so Amar-Dahl, die im Geiste Hannah Arendts argumentiert, die sich gegen die Flucht in ein „Land ohne Volk“ zum Zweck der nationalen Wiedergeburt und Entfaltung aussprach, da diese Form des Isolationismus aufgrund internationaler Interdependenzen realiter nicht funktionieren könne.
Zwei Lager, zwei Mythen – keine Lösung
Die Geschichte als Argumentationsstütze wählend blickt Amar-Dahl abschließend auf die Zukunft des Nahost-Konflikts und kommt zu dem Fazit, dass der „Mythos der Verheißung des Landes“ konservativen Kräften keinen „politischen Verhandlungsspielraum lässt, da auf Gebiete in Eretz Israel nicht verzichtet werden dürfe“ und diese auch nicht gewillt seien.
Die Linkszionisten indes würden am „alt-zionistischen Anspruch der Normalisierung der Verhältnisse zwischen Juden und Nichtjuden“ festhalten, ihr „Sicherheitsmythos“ führe jedoch zur „Entpolitisierung des Friedens“. Nach Amar-Dahl lautet diese Logik: „Wenn das Friedenswerk im Kern nicht von Israels Politik abhängig sei, sondern alleine vom Willen der ‚Araber‘, Israel anzuerkennen, so lässt sich politisch gesehen auch wenig machen.“
Diese Ausführungen sind im internationalen Wissenschaftsbetrieb nicht neu, haben doch die Forschungen des mittlerweile verstorbenen Soziologen Baruch Kimmerling oder die der Grand Dame der israelischen Historikergilde, Anita Shapira, bereits ähnliche Ergebnisse zu Tage gefördert. Eine breite Öffentlichkeit haben deren Publikationen freilich nicht erreicht.
Deshalb ist es Tamar Amar-Dahls Verdienst einen Standpunkt der Israel-Forschung allgemeinverständlich und auf Deutsch unter Berücksichtigung einer Vielzahl hebräischer Quellen publiziert zu haben, was ihr Werk zu einer lohnenswerten Lektüre macht.
Tamar Amar-Dahl: Das zionistische Israel – Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des Nahostkonflikts
Paderborn (Ferdinand Schöningh) 2012, 256 Seiten, EUR 24,90
Übernahme mit freundlicher Genehmigung der „zenith – Zeitschrift für den Orient“