„Ist es noch gut, für unser Land zu sterben?“, fragt David Ranan junge israelische Soldatinnen, Soldaten und Kriegsdienstverweigerer – und stößt dabei auf überraschende Antworten. 27 Statements, die sich daraus ergaben, hat er in einem detailreichen Interviewband veröffentlicht.
Von Meggie Jahn
Seit der Staatsgründung 1948 ist Israel nie zur Ruhe gekommen. Das kleine Land, Zuflucht auch für Holocaust-Überlebende, musste danach in zahlreichen Kriegen sein Existenzrecht verteidigen. Das hat Spuren hinterlassen – in der Bevölkerung wie in der Armee. David Ranan, der selbst Militärdienst in Israel geleistet hat und heute in England lebt, gelingt es mit großer Einfühlung, erstmals in die Psyche junger Wehrdienstleistender und Wehrdienstverweigerer in Israel vorzudringen.
„Das Jahr 1967 veränderte alles“, schreibt Ranan. Mit der Eroberung zusätzlicher Gebiete durch den Sechstagekrieg – Folge der massiven Bedrohung durch Nassers Ägypten – mussten israelische Kampfsoldaten Besatzungsaufgaben übernehmen, wofür sie nicht ausgebildet waren. Die Hoffnung, Land gegen Frieden zu tauschen, erfüllte sich nicht, „Judäa und Samaria“ wurde als alte biblische Heimat wiederentdeckt – mit den bekannten Folgen für die Palästinenser. In einem asymmetrischen Krieg steht die Armee nun Guerillagruppen und todesbereiten Selbstmordattentätern gegenüber, die es schwer machen, zwischen Kämpfern und Zivilisten zu unterscheiden.
Der Auslöser für Ranans Buch war ein Besuch bei Freunden in Israel. Zweien ihrer drei Söhne war es gelungen, den obligatorischen Militärdienst zu umgehen. Ranan wollte diesem Phänomen nachspüren. Dafür interviewte er 50 wehrpflichtige Israelis und Verweigerer zwischen 18 und 30 Jahren, 27 finden sich in dem Buch. Offen sprechen sie über ihre Hoffnungen und Erwartungen, aber auch ihre moralischen Nöte. Das Spektrum reicht von scharfer Kritik an den Gesetzen des Militärs über Begeisterung für die Möglichkeiten, die ihnen die Armee die Erprobung ihres Kampfgeistes, Sport, Fortbildungen und neue Freundschaften bietet, bis hin zu Verständnis für Gewalt gegen Palästinenser, sofern die Soldaten ihr Leben, das ihrer Kameraden oder auch die Sicherheit Israels bedroht sehen.
Respekt gegenüber Verweigerern
Wehrdienstverweigerung ist in Israel offiziell nicht erlaubt. Doch es gibt Umwege und Auswege, verständnisvolle Vorgesetzte und Psychologen. Einige der Verweigerer gehen dafür wiederholt für mehrere Tage ins Gefängnis. Überraschend an dem Buch war für mich der Respekt unter den befragten Wehrpflichtigen, der selbst Verweigerern entgegengebracht wird, sofern sie dies aus Gewissensgründen tun. Einige von ihnen machen ein Freiwilliges Soziales Jahr oder setzen sich in anderer Form für die Gemeinschaft ein, auch wenn es offiziell keinen Zivildienst gibt.
Auf weniger Verständnis stößt dagegen das „Bar Rafaeli-Syndrom“. Das israelische Foto-Modell Bar Refaeli hatte kurz vor ihrer Einberufung geheiratet und sich bald darauf wieder scheiden lassen. Ein solches Verhalten wird von vielen als Flucht aus der Verantwortung gesehen.
Kaum ein Interviewpartner zweifelt an der Notwendigkeit einer starken Armee für Israel. Überfordert fühlen sich junge Menschen aber durch die Besatzungssituation. Für sie ist es kein Widerspruch, zugleich glühende Patrioten und für einen Palästinenserstaat zu sein.
Ein Gesprächspartner hält die israelische Armee mit ihrem Gebot der „sauberen Waffen“ noch immer für die „moralischste der Welt“, auch wenn er keinesfalls abstreitet, dass Unrecht geschieht. Bemerkenswert ist, wie reflektiert und selbstkritisch junge Soldaten und Verweigerer mit der politischen Situation und ihrem eigenen Handeln umgehen – ein Zeichen ihres Aufwachsens in einer lebendigen und streitbaren Demokratie.
Spannungen zwischen Säkularen und Religiösen
David Ranan hat das Buch seiner von den Nazis vertriebenen deutschen Mutter Sylvia gewidmet. In seiner 35 Seiten umfassenden Einleitung gibt er den Lesern einen exzellenten und äußerst differenzierten Einblick in die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts, in die israelische Gesellschaft und die Strukturen des Militärs. Sie ist auch für Israelkenner ein Gewinn. Es geht um die Spannungen zwischen Ashkenasim und Sefardim, zwischen Religiösen und Säkularen, aber auch zwischen Neueinwanderern v.a. aus der früheren Sowjetunion und links-liberalen Israelis. Der kurze Abriss zur Geschichte und das Glossar sind ebenfalls hilfreich. Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, schrieb das Vorwort zu dem Buch.
Die größte Sorge Ranans gilt einer möglichen Gefährdung des staatlichen Gewaltmonopols und damit auch der israelischen Demokratie. Was geschieht, wenn eine umfassende Räumung von Siedlungen im Westjordanland beschlossen wird und Militärrabbiner dazu aufrufen, den Befehlen nicht zu folgen? Tatsache ist, dass in den letzten Jahren mehr Religiöse ins Militär gehen und als Offiziere auch zunehmend die Kommandoebene anstreben. Seit Erscheinen des Buches hat sich der Konflikt zwischen Säkularen und Religiösen weiter verschärft, auch wenn hierbei eher Ultraorthodoxe im Fokus stehen, die den Staat insgesamt ablehnen, da er nicht vom Messias, sondern von säkularen Juden gegründet wurde. Als sich religiöse Soldaten kürzlich weigerten, an Veranstaltungen teilzunehmen, bei denen auch Frauen singen sollten, meldeten sich allerdings empörte Stimmen aus allen Lagern zu Worte.
Der Buchtitel könnte assoziieren, junge Israelis oder gar der Autor hielten eine Verteidigung Israels nicht mehr für notwendig. Israelfreunde nähern sich dem Buch deshalb mit Skepsis oder gar Ablehnung. Doch im Buch finden sich dafür keinerlei Anzeichen. Deutlich wird nur, dass sich die Politik ändern muss. Das Thema ist brandaktuell. Wie notwendig die Armee für Israels Überleben auch künftig bleibt, wird von den Entwicklungen in den arabischen Nachbarstaaten, aber auch vom Iran abhängen, der alles tut, um im Nahen Osten weiter zu zündeln.
David Ranan: Ist es noch gut, für unser Land zu sterben? Junge Israelis über ihren Dienst in der Armee
Berlin (Nicolai Verlag Berlin) 2011, gebunden, 272 Seiten, 19,95 Euro
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des vorwärts
TERMINTIPP:
Am 22. Oktober liest und disktutiert David Ranan mit uns. Unseren Veranstaltungshinweis finden Sie hier.