Von Michael Jenne
Eine Rückschau auf die nunmehr fünfzig Jahre der Deutsch-Israelischen Gesellschaft soll natürlich die Umstände der Gründung dieses „eingetragenen Vereins“ noch einmal vor Augen führen, die politische und gesellschaftliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland wie in Israel sowie das damalige Verhältnis beider zueinander. Von Interesse dürfte dabei aber auch sein, dass es zum Zeitpunkt der DIG-Gründung, wenige Monate nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Staaten, bereits seit Jahren eine studentische Organisation gab, die sich die Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen zum Ziel gesetzt hatte.
Jochanan Bloch (1919-79), Deutscher und Israeli, jüdischer Religionswissenschaftler und Jurist, gründete 1957 – gerade einmal zwölf Jahre nach dem Ende der Nazi-Herrschaft! – an der Freien Universität Berlin die erste „Deutsch-Israelische Studiengruppe“ (DIS), der ab 1959 acht weitere Gründungen an westdeutschen Hochschulen folgten, die sich dann zum „Bundesverband Deutsch-Israelischer Studiengruppen“ (BDIS) zusammenschlossen. Zu den Gründern der DIS an der FU Berlin zählten weiterhin u.a. Manfred Rexin, Ansgar Skriver und Reinhard Strecker sowie weitere Studenten überwiegend der Sozialwissenschaften und Publizistik, viele von ihnen Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Auf Initiative von Heinz Wewer gab die DIS ab 1960 die „DISkussion“ heraus, die bis 1971 drei- bis viermal jährlich erschien als „Zeitschrift für Fragen der Gesellschaft und der deutsch-israelischen Beziehungen“. Die Programmatik der in Berlin erscheinenden Zeitschrift als Organ der DIS ist in Heft 14, Mai 1964, zusammengefasst:
„Der innere Zusammenhang zwischen Problemen der deutschen Gesellschaft und Problemen der deutsch-israelischen Beziehungen ergibt sich aus dem Faktum der nationalsozialistischen Herrschaft. Eine Gesellschaft, die die faschistische Barbarei hervorbrachte, trug und ertrug, hat sich radikal fragwürdig gemacht; es gilt daher, den Ursachen der Katastrophe in den Traditionen, Normen und Institutionen der deutschen Gesellschaft nachzuspüren. … Es gilt aber auch, gegenüber dem Volk der Opfer, soweit es die Katastrophe überlebte, die Konsequenz zu ziehen. Auschwitz ist nicht nur die Bankrotterklärung der deutschen politischen Tradition, sondern auch die unabweisbare Bestätigung des politischen Zionismus. Der von Deutschen praktizierte Nationalismus erwies die Legitimität des jüdischen Nationalismus. … Die Position der Deutschen gegenüber Israel kann daher nur eine der Solidarität sein; Solidarität nicht im Sinne einer unkritischen Identifikation, sondern im Sinne der Mitverantwortung für die Existenz des jüdischen Staates.“ Heinz Wewer, quasi Chefredakteur der „DISkussion“, formuliert drei Jahre später in Heft 22, das im Juni 1967, also genau zur Zeit des Sechstagekrieges, erschien, im Leitartikel über „Voraussetzungen des Friedens im Nahen Osten“: „Das Flüchtlingsproblem ist eine Folge der grundsätzlichen Ablehnung der Existenz Israels durch die arabischen Staaten. Jede Friedensregelung muss daher vom Existenzrecht Israels ausgehen.“
Peter Müller, ca. 1960-65 Student an der FU Berlin und 1961 Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (ASTA), der in dieser Zeit verschiedentlich Grundsatzartikel für die „DISkussion“ verfasste, so 1966/67 in den Heften 19/20/21 über „Die braune Universität“, berichtete 1965 in Heft 16 über „Die Beziehungen der deutschen Studentenschaft zu den Studenten Israels“: „Unter den organisierten Gruppen der Studentenschaft haben sich die ‚Deutsch-Israelischen Studiengruppen‘ vor allem um Informationen über die Entwicklung Israels, um eine Auseinandersetzung mit den Problemen der deutsch-israelischen Beziehungen und um Kontakte zu den Bewohnern, vor allem den Studenten, Israels bemüht. Die Berliner DIS … entsandte bereits 1957 und 1958 die ersten Gruppen nach Israel. Diese und viele spätere Reisen von DIS-Gruppen, in deren Rahmen man vor allem an der gemeinsamen Arbeit und am gemeinsamen Leben der Kibbuzim teilnahm, das Land bereiste, sich um Kontakte zu offiziellen Stellen wie zu den verschiedenen Gruppen der Bevölkerung bemühte und sich mit Studenten israelischer Hochschulen zu Diskussionen und Arbeitsseminaren traf, wurden in Zusammenarbeit mit dem Reisebüro des israelischen Studentenverbandes … organisiert.“
Solche Reisen fanden also statt zu einer Zeit, als von Israel-Tourismus – weder als Einzel- noch als Gruppenreisen – noch keine Rede sein konnte und auch Israelis kaum Auslandsreisen unternahmen, schon gar nicht nach Deutschland. Auch bei den Medien, im Wesentlichen Presse sowie Rundfunk, gab es abgesehen von den Presseagenturen noch kaum akkreditierte Auslandskorrespondenten, sodass der Informationsfluss ausgesprochen spärlich war.
Das begann sich zu ändern, als im Frühjahr 1961 über mehrere Monate in Jerusalem Adolf Eichmann der Prozess gemacht wurde. Einer der leitenden Organisatoren der Shoa musste sich in Israel vor Gericht verantworten, da, wie die Biografie des damaligen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (Ronen Steinke, „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“, München/Berlin/Zürich 2015) noch einmal verdeutlicht hat, in der Bundesrepublik Deutschland außer den Universitäten auch die Justiz in weiten Bereichen nach wie vor braun eingefärbt war.
Zum Eichmann-Prozess entsandte die DIS nacheinander drei Beobachter aus ihren Reihen, die sich jeweils mehrere Wochen lang in Israel aufhielten und nach Beendigung des Prozesses nicht nur DIS-intern, sondern auch auf einer öffentlichen Veranstaltung im Auditorium Maximum der FU Berlin über den Prozessverlauf und die Aufnahme dieses Geschehens in der israelischen Öffentlichkeit berichteten. Dieser Einsatz der DIS fand wiederum Beachtung in der (West-) Berliner und bundesdeutschen Presse, also auch jenseits der akademischen Sphäre. Für ihre Mitglieder und Interessenten an den Hochschulen wurden neben Einzelveranstaltungen auch mehrtägige Seminare, so mehrfach in Kaub am Rhein, organisiert, wo im Frühjahr 1962 u.a. auch Probst Heinrich Grüber als Referent auftrat, der im Jahr zuvor als einziger deutscher Zeuge im Eichmann-Tribunal ausgesagt hatte.
Immer wieder in der ersten Hälfte der 60er Jahre wurde in Veranstaltungen wie in Publikationen der Deutsch-Israelischen Studiengruppen „das Fiasko der westdeutschen Außenpolitik im Nahen Osten“ angeprangert, speziell die hinhaltende Verzögerung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, vornehmlich aus Sorge um die zu erwartende Reaktion arabischer Staaten, die für diesen Fall eine diplomatische Anerkennung der DDR androhten. So wurden, wie Martin Schmidt im April 1965 in Heft 16 der „DISkussion“ unter Hinweis auf die vom Verteidigungsminister F. J. Strauß eingefädelten Waffenlieferungen an Israel feststellte, „Israel nicht diplomatische Beziehungen, sondern Waffen angeboten … Die Politik der Stärke ersetzt Diplomatie durch Rüstung.“
Als es dann 1965 unter der Ägide des Bundeskanzlers Ludwig Erhard schließlich zur Aufnahme „normaler“ und doch, historisch betrachtet, so außergewöhnlicher diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel gekommen war und im Jahr darauf die „Deutsch-Israelische Gesellschaft“ als Freundschaftsorganisation zur Förderung bilateraler Beziehungen aller Arten gegründet wurde, stellte sich für die DIS bald auch die Frage „Wozu überhaupt noch Deutsch-Israelische Studiengruppen?“, um deren Beantwortung in der „DISkussion“ (Heft 18, 1966) sich wieder Peter Müller bemühte. Zum einen, so die Argumentation, häuften sich nun binnen kurzer Zeit „Israel-Kontakte und Israelreisen von deutschen Gruppen jeder politischen, soziologischen und altersmäßigen Provenienz“. Zum anderen aber erweckte es bei der DIS nun „Unbehagen“, dass solche Kontakte und Reisen sehr schnell auch zur Image-Pflege von denen genutzt wurden, „die sich vorher, angesichts der gegenüber der Aufnahme diplomatischer Beziehungen lange Jahre hindurch ablehnenden Haltung der Bundesregierung, weder für diese Beziehungen, noch für die von den Israelis oft als ihre Vorbedingung angesehene entschiedene Demokratisierung der politischen und sozialen Struktur der Bundesrepublik sonderlich eingesetzt hatten. Wie für die Bundesregierung, so war für solche Gruppen … solche plötzliche Kontaktanknüpfung nach langjährigem Desinteresse primär eine Frage der Staatsräson, des taktisch-außenpolitischen Kalküls.“ Natürlich schwang bei diesem Unbehagen unter den überwiegend linksorientierten DIS-Gruppen die Erkenntnis mit, dass man nach annähernd einem Jahrzehnt mühseligen politischen Gegen-den-Strom-Schwimmens nun geradezu kolonnenweise rechts überholt wurde; immerhin sollte den Sozialdemokraten in der Bundesrepublik erst im Herbst 1966 erstmals eine Regierungsbeteiligung gelingen in der (vom ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt-Georg Kiesinger geführten) Großen Koalition, während in Israel die sozialdemokratische „Mapai“-Partei seit der Staatsgründung im Jahre 1948 ununterbrochen am Ruder war.
So deutete sich aus der Perspektive der Deutsch-Israelischen Studiengruppen der Trend an, „dass der innere Zusammenhang zwischen der ‚Solidarität mit Israel‘ und der ‚Konfrontation mit der Geschichte‘ immer weniger und Wenigeren selbstverständlich sein dürfte“, somit ein „Trend zu zunehmender Entpolitisierung der dem Verband gesetzten Aufgaben“.
Tatsächlich sollte die DIS in eine schwere Krise geraten, als sich nach dem Sechstagekrieg 1967 die Siegermacht Israel in den von ihr besetzten Gebieten der Nachbarstaaten fest etablierten und – auch im Zuge der Studentenunruhen in der Bundesrepublik – eine Spaltung unter den „Linken“ vollzog und manche, auch aus der Führungsriege der DIS, der israelischen Seite enttäuscht den Rücken kehrten. Diese Krise führte zur Auflösung der Deutsch-Israelischen Studiengruppen zu Anfang der 70er Jahre. Deren historische Verdienste als Pioniere der deutsch-israelischen Beziehungen, der Beziehungen zwischen der sich erst allmählich aus dem Dunst der braunen Vergangenheit befreienden Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und dem jungen Staat Israel, sind dennoch unbestritten.