Am 7. April 2013, am Vortag des Yom Ha Shoa, starb Ester Golan inmitten ihrer Familie in ihrer Jerusalemer Wohnung im Alter von 89 Jahren. Selig sei ihr Andenken.
von Margreet und Stefan Krikowski
Ester Golan wurde 1923 als Ursula Dobkowsky in Glogau (Schlesien) geboren. Ihre Eltern, Aron und Elsbeth Dobkowsky (geb. Oppenheim), zogen durch die Weltwirtschaftskrise ruiniert 1937 mit ihren drei Kindern nach Berlin in die Courbière Straße 16. Krampfhaft suchten sie für sich und die Kinder nach einem Ausweg aus Deutschland. Alle Bemühungen, als Familie auszuwandern schlugen fehl. Schließlich konnte Ester am 25. März 1939 mit einem der von Recha Freier initiierten Kindertransporte vom Berliner Bahnhof Zoo nach Schottland abreisen. „Ein schneller Abschied am Bahnhof. Der Zug war schon eingefahren. Ich stieg ein, und der Zug fuhr los. Ich machte mir keine großen Sorgen darüber, denn damals hatte ich nur das aufregende Gefühl zu „verreisen“. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, der Abschied könnte eine lange, vielleicht sogar endgültige Trennung bedeuten.“
Ester und ihre Eltern unterhielten bis zu deren Deportation nach Theresienstadt einen engen Briefkontakt. Die Briefe ihrer Eltern schildern den immer ausweglos werdenden Kampf, einen Weg raus aus Deutschland zu finden. Aber Esters Eltern blieb jeder Ausweg versperrt. Am 5. November 1942 wurden sie mit dem 72. Alterstransport nach Theresienstadt deportiert. Dort starb Aron Dobkowsky am 10. Februar 1943. Elsbeth Dobkowsky wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Das genaue Todesdatum ist unbekannt.
Erst in den 1990er Jahren war Ester emotional in der Lage, die Briefe wieder in die Hand zu nehmen. Viel Gleichgültigkeit und Unverständnis musste sie überwinden, um die Briefe zu veröffentlichen. „Auf Wiedersehen in unserem Land“ (ECON Verlag, 1995) heißt das Buch, denn mit dieser Hoffnung und Sehnsucht hatte sich Elsbeth Dobkowsky von ihrer Tochter verabschiedet.
Wenn von Helden die Rede ist, sollten wir nicht nur an die Kämpfer des Warschauer Ghettos denken, sondern auch an Eltern, wie ihre, so sagte Ester. Eltern, die den Mut hatten, ihre Kinder in fremde Hände zu übergeben, damit sie eine Überlebenschance erhielten. Für diese Anerkennung kämpfte Ester zeitlebens.
Am 2. Juni 1945 kam Ursula in Haifa an. Seitdem nannte sie sich Ester. Sie heiratete und bekam eine Tochter und zwei Söhne und viele, viele Enkel und Urenkel. Ihre Identität umschrieb sie als Jüdin, Zionistin, Israeli und Shoa-Überlebende. Sie studierte im Erwachsenenalter unter anderem Sozialpädagogik. Die kleine resolute Frau vertrug keine Untätigkeit. Im fortgeschrittenen Alter lernte sie den Umgang mit dem Computer, hatte ihre eigene Homepage und unterhielt in regem E-Mail-Verkehr Kontakt zu den vielen Bekannten in Israel, Europa, vor allem Deutschland und Amerika. In Israel engagierte sie sich in interreligiösen und interkulturellen Begegnungen.
Esters Tür stand immer offen, weil sie neugierig auf Kontakte mit anderen jungen Menschen war. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie nach Jerusalem, um in der Nähe ihrer Kinder zu sein. Sie engagierte sich, lebhaft und streitbar wie sie war, unter anderem bei ASF, für deren Volontäre sie eine gefragte Anlaufstelle war. Wie viele ASF-Volontäre mag sie wohl in ihrer Wohnung empfangen haben, um ihnen das Judentum und seine und ihre Geschichte näher zu bringen? Ester war eine Brückenbauerin par excellence. Sie wurde regelmäßig nach Deutschland eingeladen, auch vor Schulen zu sprechen. Immer wieder las sie einen Brief ihrer Mutter vor, der am Ende abgedruckt ist.
Im Rahmen der Stolpersteinverlegung für ihre Eltern in der Courbière Straße im September 2003 hielt Ester einen Vortrag in einer Schulklasse der Schöneberger Löcknitz-Grundschule. An dem Tag wurde auch der erste Kontakt geknüpft für ihre Mappe in der jetzt endlich permanenten Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Schöneberger Rathaus.
Schalom v lehitraot, liebe Ester, wir vermissen Dich!
Um den ganzen Schmerz der jungen Ester Golan über den Verlust ihrer geliebten Eltern zu verstehen, sei nochmals der ausführliche Brief ihrer Mutter aus dem Buch „Auf Wiedersehen in unserem Land“ wiedergegeben:
Berlin, 24. April 1939
Meine liebe Ursula,
Deine liebe Karte vom 14.4. haben wir Dir postwendend mit einem ausführlichen Brief beantwortet. Heute ist nun schon der 24.4., und wir haben noch immer den sehnsüchtig erwarteten ausführlichen Brief nicht erhalten. Ursula, dies ist ein schlechter Anfang, und wir sind tief traurig, daß Du Dich in dieser Zeit nicht zu einem ausführlichen Bericht aufraffen konntest, Du kennst unseren lieben besorgten Papi, er hat schon diverse Male mit kräftig erhobener Stimme seinen heftigen Unwillen über Dein für uns rätselhaftes Schweigen geäußert. Dies anhören zu müssen, ist für mich wahrlich keine reine Freude. Und Papis Zorn ist für meine Begriffe berechtigt.
Also, mein liebes Mädelchen, reiß dich zusammen und schreibe schnell einen ausführlichen Brief. Schreibe auch, wie es Sabine Levy geht und ob sie noch im Krankenhaus liegt. Am Freitagabend kam Sabines Mutter zu uns. Urselchen, sie hat uns sehr gut gefallen. Sie ist eine liebe, kluge Frau mit sehr vernünftigen Ansichten. Sie erzählte uns, daß Sabine am vorigen Freitag einen ausführlichen Brief geschrieben hätte, über den sie und ihr Mann sich sehr gefreut hatten. Aber am nächsten Tag kam eine Nachricht von einer Dame, daß Sabine am Sonnabend mit einer Halsentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wurde und voraussichtlich vierzehn Tage lang nicht nach Hause schreiben könne. Schreibe uns also umgehend, was Du über Sabines Befinden weißt.
Vom Peter kam heute eine beglückte Karte, geschrieben am 14.4. in Deganja (eine Siedlung südlich vom See Genezareth) und abgestempelt 17.4. Er schreibt: Meine Lieben, jetzt sind wir wirklich noch auf Tijul (Ausflug) gegangen. Wir fuhren über Ein-Charod, Beth-Schean, Aschdot-Jaakov, Afikim nach Deganja. Und morgen geht es weiter nach Galiläa. So etwas gibt es nicht noch einmal. Ich habe hier viele Freunde aus meiner Vorbereitungszeit getroffen. Jetzt muß ich leider schließen, da wir weiter marschieren. Viele herzliche Grüße, Schalom, Peter.
Von Großmutti und Onkel Emil aus Portugal hatten wir heute auch eine liebe Karte. Sie sind alle gesund und wohlauf, und es ist schönes Wetter, 37 Grad Wärme. Grußmutti sorgt sich sehr um die Dickmanns in Bogotá. Seit Januar haben sie weder an Großmutter noch an uns geschrieben. Heute werde ich zu Onkel Wilhelm gehen und ihn bitten, bei Hans anzufragen, was bei den Dickmanns los ist.
So, meine liebe Ursula, und nun kommt das Trostloseste, was ich Dir zu berichten habe. Ich war vorigen Dienstag aufs Palästina-Amt bestellt, und da eröffnete mir Herr Kopid klipp und klar, daß wir nicht mit dem Zertifikat rechnen können. Die Angelegenheit sei ins Wasser gefallen, und wie uns, so ginge es allen, die mit einem Antwerper Zertifikat rechneten! Jedem Land war eine bestimmte Anzahl Zertifikate zur Verfügung gestellt. Da die Belgier sie nicht ausgenutzt hatten, erkauften wir eines für teures Geld. Also, der Traum ist aus. Und ich war natürlich fassungslos, ich konnte mich eben nicht mehr beherrschen und mußte vor dem Mann so bitterlich weinen, daß er nicht wußte, was er mit mir anfangen sollte. Aber allmählich beruhigte ich mich äußerlich so weit, daß ich mich verabschieden konnte. Ich dachte, überhaupt alles um mich steht still. Daß diese prompte Absage eintreten könnte, hab ich mir nie träumen lassen. Dazu das nervenzerreißende Warten seit September vorigen Jahres! Ich kann Dir nur sagen, alles ist in mir wie ausgehöhlt.
Vom Kopid ging ich sofort herauf zu Recha Freier. Nachdem ich dort im Gange eine Stunde gewartet hatte, sprach sie sehr ausführlich mit mir und tröstete mich und dachte nach. Sie verwies mich an die Alija B (illegale Einwanderung nach Palästina). Ich wußte nicht, in welchem Zimmer das ist, also mußte ich mich in Zimmer 25 anmelden und wurde für Freitag bestellt. Freitag beriet mich wieder der siebzig Jahre alte Dr. Ludwig, der mir in nicht sehr freundlichen Worten sagte, das käme für uns nicht in Frage. Und als ich wie angewurzelt sitzen blieb und in ihn drang, weshalb, sagte er erst, ich sollte ihm doch die Antwort ersparen. Ich drang aber weiter in ihn, und da sagte er mir ganz kurz: „Ihr Mann ist eben zu alt.“ Ich hätte dem Mann trotz seines Alters ins Gesicht schlagen mögen.
Also ging ich hinaus und wieder hinauf zu Recha. Recha hatte nämlich am Freitag zu mir gesagt, ich sollte sie auf dem laufenden halten und ihr sofort sagen, was ich für einen Bescheid erhielte. Freitag wurde mir aber gesagt, Recha wäre für zehn Tage im Ausland. Ob ihr etwas mitzuteilen wäre oder ob ich ihr einen Brief schreiben wollte, Post würde ihr am Freitag nachgeschickt. Ich sagte, ich danke, und ging. Als ich aber auf der halben Treppe war, machte ich kehrt und ging noch einmal zurück und sagte, ich wollte ihr doch noch einige Zeilen nachsenden. Ich schrieb: „Liebe Recha, ich bin abgewiesen, weil mein Mann zu alt sein soll. Mein Mann ist zweiundfünfzig Jahre alt. Ich hoffe auf Deinen Rat. Herzlichen Gruß.“
Dieser Zettel wurde ihr ja auch geschickt. Nun kann ich sie erst in acht Tagen sprechen. Aber Ursula, unser Schicksal scheint ja besiegelt zu sein. Wir kommen nicht nach Erez Israel.
Zwei Tage habe ich Tag und Nach geweint. Selbst unserem guten Vati kommen des öfteren Tränen der Verzweiflung, denn unser einziger Wunsch war doch der, und wenn in noch so bescheidenen Verhältnissen, mit Euch, unseren geliebten Kindern, in Erez zu sein.
Und nun muß ich als solch alte und überzeugte Zionistin nach Schanghai, von wo ich nie zu Euch gelangen kann. Denn wenn auch Peter uns in einigen Jahren anfordern könnte, so ist doch nie wieder das Geld für die unendliche weite Reise von Schanghai nach Erez aufzutreiben. Die billigste Fahrkarte von hier nach Schanghai kostet für eine Person über tausend Mark.
Vati benimmt sich mir gegenüber wie immer sehr edel. Er ist so liebt und sagt: „Gutes, Du darfst Dich nicht so grämen, Du darfst nicht krank werden.“ Ich laufe ständig mit einer verheulten Schnapsnase rum. Da wir nun um keinen Preis mehr länger hier bleiben können, denn unsere Geldmittel haben so abgenommen, daß uns sonst kein Fahrgeld übrigbleibt, habe ich mich entschlossen, dorthin mit Vati auszuwandern, wo wir hin können. Wir wünschen nur beide dringend, daß Marianne-Renate vorher nach London abgerufen wird. Denn nur ungern würden wir das Kind in ein so unbestimmtes Schicksal mitnehmen, wo es, wenn Vater und mir etwas zustößt, ganz allein dasteht. Ist sie aber in London, so habt Ihr beiden Großen die heilige Pflicht, ihr beizustehen.
Wie weh und traurig Vati und mir zumute ist, wirst Du in Deiner Jugend noch gar nicht ermessen können. Aber daß wir alle Ursache zum Verzweifeln haben, das fühlst auch Du, mein geliebtes Kind. Vati ist jetzt auf den verschiedensten Reisebüros, um zu erfahren, für wann wir belegen können. Denn für die nächsten Monate soll nichts mehr frei sein.
Wir würden ja auch gern probieren, ob wir als Dienerpaar irgendeine Anstellung und somit das Permit für England erhalten können. Wir würden ja jede Arbeit leisten. Dort könnten wir uns ja bestimmt über Wasser halten, bis Ihr uns anfordern könntet. Und die Reise von England nach Erez ist ja auch erschwinglich. Aber wir wissen nicht, wie wir es anstellen können. Vielleicht kannst Du Dich mit irgendjemandem beraten. Aber schnelle Hilfe tut uns not!
Herr Brode ist wieder zu Hause und läßt Dich grüßen. Herr Heumann hatte doch den Preßbilderbogen, den Du ihm zur Hochzeit seines Sohnes gemacht hast, diesem nach Erez nachgesandt. In seinem letzten Brief bedankt sich nun der junge Ehemann dafür und schreibt, Du hättest ihm und seiner jungen Frau damit eine herzliche Freude bereitet. Sobald Du in Erez sein wirst, lädt er Dich heute schon herzlich als seinen lieben Gast ein. Am Freitag waren wir zum Abendbrote bei den Schotts.
Sonst wüßte ich nichts mehr zu berichten. Also, mein liebes Mädelchen, beliebe gesund, schreibe und recht bald ausführlich. Du kannst ganz offen auf diesen Brief eingehen. Vati weiß, daß ich Dir über all das schreibe. Nur weil ich nicht haben will, daß er sich von neuem beim Lesen aufregt, sende ich den Brief ab, ohne daß ich auf ihn warte zum Anschreiben. Er läßt Dich recht herzlich grüßen, auch das Kind sendet Grüße.
Bleibe gesund und vergiß Deine Eltern nicht!
Ich grüße und küsse Dich innig.
Schalom, Deine treue Mutter
Ester Golan in Memoriam (1923 – 2013)