Noch nie schien dieses Land so verhasst, angreifbar und isoliert wie heute: Israel ist als Sündenbock nützlicher, als es als Friedenspartner sein kann – auch für Ägypten. Derweil driften Europa und Israel immer weiter auseinander.
Von Gil Yaron
Wer nachvollziehen will, wie es sich anfühlt, in Israel zu leben, sollte in Tel Aviv ein altes Radio einschalten und nach einem hebräischen Sender suchen. Es dauert lange, bevor man auf eine israelische Station stößt – eine kleine Insel inmitten eines Meeres statischen Rauschens, lieblich gesäuselter arabischer Songs und Talkshows in der Sprache des Korans.
Nicht nur akustisch steht Israel auf einem isolierten Sonderposten: Noch nie schien dieses Land so verhasst, angreifbar und isoliert wie heute.
Die Regierung beschwichtigt. „Israels Sicherheitslage war noch nie besser als heute“, sagte vor wenigen Tagen Amos Gilad, General a. D. und Direktor der Abteilung für Sicherheit und Diplomatie im israelischen Verteidigungsministerium. Schließlich gebe es „keine Terroranschläge, unsere Abschreckung funktioniert an der Nord- und Südgrenze, es gibt keine Koalition arabischer Armeen gegen uns“. Gilad gilt als einer der einflussreichsten Beamten mit Zugang zu geheimen Staatsdokumenten. Umso schlimmer. Alle Kriege, die ich bisher in Israel miterlebte, haben meinen Optimismus nicht so sehr getrübt wie seine Aussagen. Entweder begreife ich oder Israels Regierung die Welt nicht mehr.
Die Massen fordern das Ende des Friedensvertrags Israels strategische Lage verursacht Beklemmung. Als der Staat vor 63 Jahren von Holocaust-Überlebenden und vertriebenen Juden aus arabischen Staaten gegründet wurde, stand er in vielerlei Hinsicht besser da als heute. Damals hatte er schlechte Karten – und spielte sie gut. Israel setzte mit der Supermacht Amerika auf das richtige Pferd. Bezüglich der Araber durfte man hoffen, dass territoriale Zugeständnisse den Konflikt eines Tages lösen würden. Im Nahen Osten wurden Persien und die Türkei als säkulare, nichtarabische Staaten zu natürlichen Bündnisgenossen. Im Westen stellte man Israels Existenzrecht nicht in Frage.
Davon ist wenig geblieben. Washington hat seinen Einfluss in der Region verloren. Für die ehemalige Superschutzmacht gibt es keinen Ersatz. Kairo untergräbt gerade das Paradigma „territoriale Zugeständnisse für Frieden“. Ägypten erhielt den Sinai zurück – und hasst trotzdem weiter. Kritiker rügen, Israel habe nie Frieden geschlossen. Sie vergessen, dass Ägyptens Führer solch einen Frieden stets verhinderten. Als Medizinstudent schrieb ich viele Briefe an ägyptische Universitäten mit der Bitte um Austausch. Sie blieben unbeantwortet. Bei einem Besuch fragte mich zwar ein Schreibwarenhändler lange aus. Doch seine E-Mail-Adresse gab er mir nicht, aus Angst vor Ägyptens Geheimdienst.
Als vor drei Wochen sechs ägyptische Grenzschützer im Kreuzfeuer israelischer Soldaten starben, verfolgten diese gerade Terroristen, die aus dem Sinai gekommen waren und acht Israelis auf dem Gewissen hatten. Mindestens drei Terroristen hatten die ägyptische Staatsbürgerschaft. Dennoch fand man in Kairo von Mitverantwortung oder Anteilnahme an dem Leid, das aus Ägypten über Israel hereingebrochen war, keine Spur. Stattdessen fordern die Massen das Ende des Friedensvertrags. Jetzt wird der Angriff auf Israels Botschaft zum Vorwand für die Wiedereinführung des Ausnahmerechts. Dabei hatten die Militärs die Attacke überhaupt erst zugelassen. Israel ist als Sündenbock nützlicher, als es als Friedenspartner sein kann, auch im postrevolutionären Ägypten.
Des Kaisers neue Kleider
Besonders mutlos macht die Krise mit der Türkei, lange Zeit Beispiel für die Kooperation zwischen Israelis und Muslimen. Dieses Jahr fand auf dem Beyazit- Platz in Istanbul am Ende des Ramadan anlässlich des „Al Quds“-Tages wieder eine Demonstration statt: „Für Weltfrieden muss Israel vernichtet werden“, hieß es auf den Plakaten derjenigen, die zum Wählerkreis Tayyip Erdogans gehören. Sie glauben tatsächlich, dass die Probleme von rund dreihundert Millionen Arabern von 7,7 Millionen Israelis herrühren.
Unterdessen feiert Kairo Erdogan als neuen Saladin. Das ist pure historische Ironie, war der doch Kurde und gehörte somit zu dem Volk, das Erdogan gerade im Nordirak bombardiert. Der neue Held der Arabellion ist ein Mann, der den Völkermord an den Armeniern leugnet; der Sudans Präsident Omar al Baschir, einem international gesuchten Massenmörder, einen Persilschein ausstellt, weil „ein Muslim unfähig ist, einen Völkermord zu verüben“; der menschenrechtswidrigen Raketenbeschuss israelischer Städte durch die Hamas ignoriert und noch vor acht Monaten Syriens Diktator Baschar Assad als „meinen Bruder“ bezeichnete.
Warum ist Erdogan dennoch Hoffnungsträger dieser Region? Weil er Israel angreift. Die jubelnden Mengen in Kairo sehen des Kaisers neue Kleider nicht. Sie freuen sich über den neuen Verbündeten im Kampf gegen den Judenstaat. Wenn Erdogan zum Moralapostel der Araber wird, steht es nicht nur um Israel schlecht.
Wer auf Hilfe von außen hofft, ist verloren
Auf meinen Vortragsreisen durch Deutschland wird Israels Existenzrecht immer öfter nicht nur in Frage gestellt, sondern verneint. Manche fordern, dass Israelis wegen vermeintlicher Menschenrechtsverbrechen verschwinden oder als Untertanen der Palästinenser leben sollen. Aber selbst wenn Israel all die Schandtaten beginge, deren es bezichtigt wird, wirft das die Frage auf, seit wann das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes von dem Verhalten seiner Führung abhängt? Wenn dem so wäre, dürften weder China noch Saudi-Arabien existieren. Dieser Logik folgend, dürfte es nach zwei Weltkriegen auch keinen deutschen Staat geben. Der Lackmustest der Rechtsstaatlichkeit als Grundlage für eine Existenzberechtigung wird auch in Europa zunehmend allein auf Israel angewandt.
Je öfter ich das Mittelmeer überquere, desto mehr erkenne ich, dass Europäer und Israelis sich immer weniger verstehen – die einen kommen von Venus, die anderen von Mars. Ihre historischen Erfahrungen und Weltanschauungen stehen sich diametral gegenüber. Ihre Narrativen sind Folge des Zweiten Weltkrieges und seiner Konsequenzen. Das Dogma der Nachkriegsdeutschen lautete: „Wir wollen nie wieder Täter sein!“ Bonns Strategie ruhte auf drei Pfeilern. Nationale Alleingänge wurden durch Handeln im Verbund mit der internationalen Staatengemeinschaft ersetzt. Die Anwendung von Gewalt galt grundsätzlich als verwerflich. Nationalismus war verpönt. Für Deutschland war das richtig. Die EU schaffte Frieden und Wohlstand.
Wie enttäuscht ist man deswegen, dass die Opfer des Holocaust andere Schlüsse zogen! Israels Parole lautet: „Nie wieder Opfer!“ Wer auf Hilfe von außen hofft, ist verloren. Nicht nur Juden in Auschwitz warteten vergeblich auf ein Bombardement der Gleise zum Vernichtungslager. Sechzig Jahre später verhinderten weder UN, EU noch Nato Völkermorde in Ruanda, Srebrenica oder Darfur.
Das Selbstbestimmungsrecht sollte unantastbar sein
Anwendung von Gewalt im Alleingang ist aus israelischer Sicht Garant des eigenen Überlebens, wie bei der Bombardierung des irakischen Reaktors oder der Zerstörung des syrischen Geheimreaktors in Deir a Saur. Aus europäischer Perspektive sind das Gründe für Kritik. Gewiss sind israelische Alleingänge manchmal falsch. Dennoch haben sie die Welt vor Problemen bewahrt. Israels militärische und politische Macht basiert auf dem Zusammenhalt der jüdischen Bevölkerung Israels als Nation. Aber dieses Zusammengehörigkeitsgefühl gilt Europäern, die gerade ihre Nationalstaaten in eine pannationale, europäische Souveränität verwandeln, als rückschrittlich, gar rassistisch. Sie vergessen, dass das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes nur im Rahmen israelischer Staatlichkeit gewährleistet ist.
Das Selbstbestimmungsrecht sollte unantastbar sein, auch das der Palästinenser. Die Nahost-Politik Netanjahus hat zu wenig dafür getan, Verhandlungen voranzutreiben. Trotzdem wird er zu Unrecht als Radikaler verunglimpft. Immer wieder ertönt die Forderung, er solle mit der Hamas sprechen. Dabei sind es doch die Islamisten, die nicht verhandeln wollen. Sie erkennen nicht einmal Israels Existenzrecht an. Der Vorwurf, Netanjahu eskaliere mit den Angriffen auf Terroristen in Gaza die Lage, ignoriert, dass die Hamas Vorladungen israelischer Gerichte nicht zustellt und Israel diejenigen, die Raketen abfeuern, nicht verhaften kann.
Dieser Sommer macht Hoffnung
Gilads Aussagen sind aus vielen Gründen besorgniserregend. Nicht nur, weil Israels Feinde stärker, seine Kritiker lauter und die Reihen seiner Freunde lichter werden. Die Beklemmung rührt von der Schockstarre einer Führung, für die militärische Abschreckung Ersatz für ideenreiche Diplomatie ist. Netanjahu hat vergessen, dass das Überleben seiner rechtslastigen Koalition nicht mit dem Überleben Israels gleichzusetzen ist. Die Sorge rührt daher, dass Israel und Europa ideologisch und kulturell auseinandertreiben. Und daher, dass Demokratie in Arabien nicht gleichbedeutend mit Toleranz, Frieden und Wohlstand ist.
Trotzdem machte dieser Sommer Hoffnung. Die größten Demonstrationen in Israels Staatsgeschichte zeigten, aus welchem Stoff diese Gesellschaft gestrickt ist. Hunderttausende protestierten, aber am nächsten Tag war keine einzige Fensterscheibe eingeschlagen, kein Auto zerkratzt. Israelis sind eigentlich ein friedliches Volk, das die Größe besitzt, das Verhältnis zu Deutschland nach der Schoa zu normalisieren und nach der Auslöschung seiner geistigen Elite eine neue hervorzubringen. Wenn das möglich ist, kann Frieden mit Arabern weder zu kompliziert noch emotional fordernd sein.
Es ist schwer, in Israel eine hebräische Radiostation zu finden. Aber die einzigartige Musik, die sie ausstrahlt, macht die mühsame Suche noch immer lohnend.
Gil Yaron, geboren 1973 in Haifa und in Düsseldorf aufgewachsen, ist Mediziner, Nahostkorrespondent und Publizist. Zuletzt erschien „Lesereise Israel: Party, Zwist und Klagemauer“.
Quelle