Grußwort Stephan Kramer: Schalom Neues Deutschland

© Wilfried Winzer

 

von Stephan J. Kramer
Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen

Grußwort
Schalom Neues Deutschland; Die DDR, Israel und die Juden
Montag, 14. Oktober, 19.00 Uhr Landesvertretung Thüringen in Berlin

 

Liebe:
Frau Anetta Kahane [Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung]
Verehrter:
Herr Konrad Weiß [Filmregisseur, Publizist, DDR Bürgerrechtler, früher Abgeordneter],
Herr Dr. Martin Jander [Politikwissenschaftler, Journalist und Dozent],
sehr geehrte Mitglieder der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sehr geehrter Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, meine Damen und Herren,
die DDR, Israel und die Juden, das ist kein leichtes Thema. Ich bin trotzdem sehr froh, dass ich heute zu Ihnen darüber sprechen kann.

Denn als Vertreter der Thüringer Landesregierung will ich Ihnen an dieser Stelle versichern, dass wir unser Erbe – die Geschichte der DDR und damit auch die Geschichte des Landes Thüringen – sehr ernst nehmen.

An dieser Stelle möchte ich auf eine Ausstellung der Amadeu- Antonio Stiftung mit dem Titel „Antisemitismus in der DDR – Das hat es bei uns nicht gegeben!“ hinweisen, die das Thema seit 2006 sehr informativ beleuchtet.

Die DDR verstand und präsentierte sich zeitlebens als genuin „antifaschistischer“ Staat.

Doch Selbstbild und Selbstdarstellung entsprachen keineswegs der Realität.

Eine Auseinandersetzung um Schuld und Mitverantwortung an den Verbrechen des Nationalsozialismus, wie sie in der Bundesrepublik ab Ende 1950er Jahre sehr zögernd begann, wurde in der DDR nie geführt.

Die SED wollte mit ihrer „Klassentheorie“ im Nationalsozialismus nie mehr sehen als ein vom „Finanzkapital“ installiertes Marionettenregime zur Unterdrückung der Arbeiterklasse.

Im Vordergrund stand für sie – gerade auch um die eigene Herrschaft zu legitimieren – die Verfolgung der Kommunisten. Ebenso verfälschend erklärte sie auch den Antisemitismus als eine bloße Ablenkungsideologie der Herrschenden zur Spaltung und Täuschung der Unterdrückten. Das an sich gute „deutsche Volk“ sei allenfalls „verführt“ worden und habe selbst unter dem Nationalsozialismus gelitten.

Mit der Enteignung der Kapitalisten, so verkündete die SED, habe die DDR die Ursachen von Faschismus und Antisemitismus „mit der Wurzel ausgerottet“.

Mit dieser bequemen Entlastungsformel zog die SED einen „dicken roten Schlussstrich“ unter die NS-Zeit und behauptete fortan kategorisch, ihr „neues Deutschland“ habe mit der jüngsten deutschen Vergangenheit rein gar nichts mehr zu tun.

Mit dieser Argumentation lehnte es die SED auch bis kurz vor ihrem Ende ab, irgendwelche Zahlungen an Israel oder internationale jüdische Organisationen zu leisten.

Mit der Enteignung der Kapitalisten, so behauptete die SED jahrzehntelang, habe sie die beste Wiedergutmachung geleistet, die überhaupt nur denkbar sei.

Allerdings wurde den in der DDR wohnenden Holocaust- Überlebenden als „Opfer des Faschismus“ eine durchaus ansehnliche Rente gewährt. [Vom Nationalsozialismus verfolgte Kommunisten jedoch erhielten das Prädikat „Kämpfer gegen den Faschismus“ und eine deutlich höher bemessene Rente.]

Aber wie Stand es um die Haltung der Bürgerinnen und Bürger in der DDR und auch im damaligen West-Deutschland?

Umfragen in den Westzonen zwischen 1946 und 1950 ergaben, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung extrem antisemitisch, ein weiteres Drittel bedingt antisemitisch eingestellt war.

Auch aus der sowjetischen Besatzungszone wurde von massivem alltäglichen Antisemitismus berichtet, immer wieder wurden jüdische Friedhöfe verwüstet.

Es unterblieb eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem aktuellen Antisemitismus in der DDR.

Selbst als in den 1980er Jahren in der DDR-Jugend neonazistische und antisemitische Tendenzen unübersehbar zunahmen, wollte die SED weiterhin nur unpolitisches jugendliches „Rowdytum“ erkennen und bestrafte dieses in der Regel eher nachsichtig.

Zudem muss als ein dunkles Kapitel in der DDR der gesamte Prozess um Paul Merker genannt werden.

Paul Merker, bis 1950 Mitglied in Politbüro und Zentralkomitee der SED, wurde beschuldigt, jahrelang als „zionistische Agenten“ an der „Ausplünderung Deutschlands“ und der „Verschiebung von deutschem Volksvermögen“ zugunsten amerikanischer und „jüdischer Monopolkapitalisten“ gearbeitet zu haben.

Merker hatte sich als einziges Mitglied des Politbüros und des Zentralkomitees für die Gründung eines jüdischen Nationalstaates, die Rückerstattung „arisierten“ Eigentums sowie Entschädigungszahlungen ausgesprochen.

Eben dies wurde nun von der SED als Ausplünderung des „schaffenden deutschen Volkes“ zugunsten „jüdischer Monopolkapitalisten“ verfolgt.

Um der behaupteten „zionistischen Gefahr“ zu begegnen, verfügte die SED die Überprüfung der Kaderakten von allen Parteimitgliedern jüdischer Abstammung, zahlreiche jüdische Angestellte in den Stadt- und Bezirksverwaltungen wurden entlassen.

Den jüdischen Gemeinden wurden kulturelle Veranstaltungen verboten, ihre Büros durchsucht, die Gemeindevorsitzenden verhört und Listen aller Gemeindemitglieder verlangt.

Über 400 Juden flohen aus der DDR, darunter auch fünf der insgesamt acht Gemeindevorsitzenden.

Auch in der DDR stand ein Schauprozess mit antisemitischer Ausrichtung bevor. Verhindert wurde er allein durch Stalins Tod im März 1953. Danach kamen die antisemitische Politik und Propaganda alsbald zum Erliegen.

Paul Merker jedoch wurde trotzdem im März 1955 vom Obersten Gericht der DDR zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber bereits im Januar 1956 rehabilitiert.

Als Merker 1969 starb, zeichnete die DDR-Regierung ihn postum mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold aus. Anlässlich seines 70. Geburtstages erhielt er 1964 den Orden Banner der Arbeit. Seine Grabstätte befindet sich auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Lichtenberg.

Nach der antisemitischen Phase von 1952/53 jedoch bot die DDR im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten wohl die sichersten Lebensbedingungen für Juden.

Antisemitismus zeigte sich nunmehr vor allem in der ab Mitte der 1950er Jahre betriebenen zunehmend israelfeindlichen Politik und Propaganda der DDR.

Angesichts der Westorientierung Israels lag es in der Logik der Blockkonfrontation, dass sich die Sowjetunion und damit auch die DDR auf der arabischen Seite positionierten.

Auffallend allerdings ist, dass sich die DDR als Hardliner gegen Israel hervortat. Kein anderer Ostblockstaat unterstützte die PLO politisch, diplomatisch, finanziell und auch militärisch so stark wie die DDR.

Die DDR deutete die gesamte Weltlage nach der ideologischen Schablone des „Antiimperialismus“.

Daher sah sie auch im Nahostkonflikt nichts als einen Teil des weltweiten „Klassenkonflikts“ zwischen „dem Imperialismus“ und „den Völkern“.

Israel wurde von der DDR-Propaganda u. a. als „Brückenkopf“ und „Hauptwerkzeug des Weltimperialismus gegen die arabischen Völker“ dargestellt.

Die gesamte Berichterstattung über die Auseinandersetzungen im Nahen Osten wurden durch das Zentralorgan der damaligen Presse, das „Neue Deutschland“ sehr einseitig geführt.

Auch finden sich in den Charakterisierungen des Zionismus, wie sie die SED ab Ende der 1960er Jahre vornahm, gehäuft antisemitische Stereotypen: Der „internationale Zionismus“ sei „das weitverzweigte Organisationssystem … der jüdischen Bourgeoisie“ und der „israelischen Finanzoligarchie“. Dieses mächtige „zionistische Finanzkapital“ verfüge über gehörigen Einfluss bei der amerikanischen Regierung, nenne eine weltweite „zionistische Propagandamaschine“ sein eigen und beteilige sich ständig an imperialistischen „Verschwörungen“.

Zudem kam es immer wieder zur Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus.

So titelte das „Neue Deutschland“ zum Sechs-Tage-Krieg „Das ist Völkermord“. „Die israelische Wehrmacht“ habe „einen Blitzkrieg vom Zaun gebrochen“ und ein „Massenpogrom gegen die arabische Welt“ verübt.

Ulbricht erklärte, Israel wolle „ein Vierteljahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg … ein ‚Protektorat Sinai‘ oder ein ‚Generalgouvernement Jordanien'“ errichten. 1982 während des Libanonkriegs Israels titelte das „Neue Deutschland“: „Israel betreibt die Endlösung der Palästinafrage“.

Zusammenfassend kann gesagt werden:
Die SED behauptete nach 1945 für ihren Staat eine radikale „Stunde Null“, gebärdete sich fortan als das „unschuldige Deutschland“ und verweigerte sich einer Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Holocaust, Schuld und Verantwortung.

Zwar ist die DDR keineswegs als antisemitischer Staat zu bezeichnen, wohl aber zeigten sich immer wieder eindeutig antisemitische Tendenzen: Ohne Skrupel beteiligte sich die SED an der von Moskau betriebenen antisemitischen Welle 1952/53 und betrieb jahrzehntelang bedenkenlos eine dezidiert israelfeindliche Politik und Propaganda, die die Grenze zum Antisemitismus immer wieder deutlich überschritt.

Am 12. April 1990 verabschiedeten alle Fraktionen der letzten, erstmals frei gewählten Volkskammer der DDR eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich ausdrücklich zu einer Mitverantwortung der DDR für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands bekannten und erklärten:

„Wir bitten die Juden in aller Welt … um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“

Und heute?
Zu den Erkenntnissen der letzten Jahre zählt, dass die Verbreitung von antisemitischen Äußerungen im Netz erheblich zugenommen hat.

Das Internet wirkt geradezu als Multiplikator. Gleichzeitig findet eine sichtbare Verrohung und Enthemmung im politischen Diskurs statt.

Dies führt u. a. dazu, dass offen vorgetragener Antisemitismus durch einen gewissen Gewöhnungseffekt mehr und mehr als Normalität empfunden wird. Solchen Tendenzen gilt es, vehement entgegenzutreten.

Und zwar nicht nur durch restriktive Maßnahmen sondern vor allem auch dadurch, ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, dass jüdisches Leben und jüdische Kultur Bestandteil der deutschen Kultur war und ist, dass Juden unsere Gesellschaft immer voran gebracht haben und es auch weiter tun.

Dazu gibt es in Thüringen einen ganzen Maßnahmenkatalog im
Rahmen der interaktiven Zusammenarbeit des Antisemitismusbeauftragten mit den Ansprechpartnern im Bereich Polizei/Inneres, Justiz, Bildung und Kultur.

Am 22. Januar 2019 ist der Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten und Chef der Staatskanzlei zum Beauftragten für jüdisches Leben in Thüringen und die Bekämpfung des Antisemitismus bestellt worden.

Er ist über den Antisemitismusbeauftragten des Bundes und allen anderen Beauftragten in den Ländern in einer Kommission eng vernetzt, die quasi als Denkfabrik und als Frühwarnsystem flächendeckend im Bundesgebiet zum Schutz jüdischen Lebens und zur Bekämpfung des Antisemitismus wirksam werden will.

Der Ministerpräsident von Thüringen, Bodo Ramelow, hat in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Landesgemeinde von Thüringen für das Jahr 2021 das Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ ausgerufen.

Zusammen mit engagierten zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie mit Institutionen und Verbänden aus den Bereichen der Kultur, Bildung und Wissenschaft wird das Themenjahr in verschiedenen Arbeitsgruppen und Werkstatttreffen vorbereitet.

Das Thüringer Themenjahr wird aber – weitgehend deckungsgleich mit dem Jahr 5781 des jüdischen Kalenders – im Herbst 2020 eröffnet werden und bis zum Herbst 2021 dauern.

Im Bereich Kultur kann man auch im Themenjahr mit dem „Achava-Festival“, dem „Yiddish Summer Weimar“ und den „jüdisch-israelischen Kulturtagen“ auf schon jetzt bestehende Säulen bauen.

2021 wird für Erfurt die Verleihung des UNESCO- Weltkulturerbe-Titels erwartet, eine umfassende Ausstellung zu Judaica mit rituellen Objekten und synagogalen Gegenständen ist auf der Heidecksburg in Rudolstadt in Planung.

Eine Ergänzung und Aktualisierung der Online-Dokumentation „Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen von Israel Schwierz unter Mitarbeit von Johannes Mötsch aus dem Jahr 2007 ist fest ins Auge gefasst, ebenso wie dessen Übertragung in eine interaktive Landkarte.

Eine Website „Jüdisches Leben in Thüringen“ und eine entsprechende Domain mit Landkarte existiert bereits über einen Trägerverein mit dem vom Land aus die Zusammenarbeit und die Verlinkung eigener Daten angestrebt werden.

Auch der seit langem in Vorbereitung befindliche Aufnahmeantrag für die Erfurter Alte Synagoge in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste wird als ein Beitrag in das Themenjahr einfließen, das ansonsten aber landesweit in der Fläche wirksam werden soll. Es soll das reichhaltige Erbe jüdischen Lebens in den alten Reichsstädten des Mittelalters ebenso sichtbar machen wie in den Residenzstädten der Neuzeit, in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl der DDR und nicht zuletzt – hier könnte ein Spezifikum gerade Thüringens liegen – im ländlichen Raum.

Und es soll sensibilisieren für den gemeinsamen gesellschaftlichen Mehrwert jüdischen Lebens heute in Thüringen und für das große Potenzial für die Zukunft Thüringens!

Zum Ende meiner Rede möchte ich die Gelegenheit nutzen Ihnen im Namen der gesamten Landesregierung mitzuteilen:
Die furchtbaren Ereignisse in Halle vom 9. Oktober 2019 / von letzter Woche / mahnen uns als Deutsche aus unserer historischen Verantwortung in besonderer Weise, dem Schutz jüdischen Lebens in unserem Land verpflichtet zu sein und das Möglichste zu tun, diesem Ziel verpflichtet zu bleiben.

Der antisemitische Angriff von Halle ist ein Angriff auf unser Gemeinwesen als Ganzes, als Angriff auf uns alle, der nicht nur jüdische Menschen betrifft. Denn der jüdische Glauben und die jüdische Gemeinschaft ist fester Bestandteil der deutschen Gemeinschaft!

Bürger jüdischen Glaubens dürfen sich nicht mehr veranlasst sehen, ihr Jüdisch-Sein zu verstecken (z. B. Kippa-Tragen in der Öffentlichkeit), um nicht Ziel antijüdischer Attacken zu werden.

Sie dürfen sich erst gar nicht veranlasst sehen, darüber nachzudenken, unser Land zu verlassen, so wie dies aktuell in unserem Nachbarland Frankreich zu beobachten ist.

Als eine wohltuende Gewissheit kann es Juden in aller Welt gelten, sich angesichts aller antisemitischen Anfeindungen, des Staates Israel sozusagen als Rückzugsgebiet in dem sie uneingeschränkt willkommen sind, sicher zu sein. Es muss schon deshalb außer Frage stehen, das Existenzrecht Israels nicht in Zweifel zu ziehen.

Wichtiger aber noch ist und das muß Ziel unseres Handelns sein, dass Jüdinnen und Juden gar nicht erst vor Antisemitismus fliehen müssen sondern auch in Deutschland ihre unbestrittene Heimat haben.

Ich heiße Sie alle nochmals im Namen der Landesregierung von Thüringen in unserer Landesvertretung herzlich willkommen und wünsche uns einen informativen und diskussionsfreudigen Abend.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!

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