Am Anfang der diesjährigen Reise der DIG Berlin und Potsdam stand die Frage: Wie kann man Bekanntes und Neues so präsentieren, dass sowohl Israelkenner als auch Erstbesucher angesprochen werden?
Meine Antwort war, Themenkomplexe zu finden. Der Besuch bei Bahai und Drusen im Norden, von Kirchen in Jerusalem und Betlehem und das Gespräch mit dem Leiter eines Wüstencamps im Negev über Beduinen führte zur Auseinandersetzung über den Staat und sein Verhältnis zu den verschiedenen Religionsgruppen im Land.
Ein weiteres Themenfeld war das positivste Aushängeschild Israels: Tel Aviv mit erfolgreichen Unternehmen, innovativen Entwicklungen und sichtbarer Lebensfreude. Dazu zwei Artikel von Teilnehmern der Reise über Tel Aviv. Politik ist für DIGler selbstverständlich ein zentrales Thema. Der Avoda-Politiker Robby Natanson zeichnete im Gespräch mit uns aus innenpolitischer Sicht ein eher kritisches Bild der neuen Regierung.
Seine Aussagen wurden flankiert vom Vortrag des Politischen Referenten, Matthias Lüttenberg, in der Deutschen Botschaft. Ergänzend stellte dieser die Aktivitäten Deutschlands in Israel und den palästinensischen Gebieten als diplomatische Herausforderung dar. Die deutsche Unterstützung des europäischen Vorstoßes zur Kennzeichnungspflicht von Waren aus den Siedlungsgebieten wurde von uns dennoch kritisch kommentiert. Und die Bitte geäußert, alle Anstrengungen zu unternehmen, um terroristische Strukturen in den Gebieten nicht aus mangelnder Kontrolle mit deutschen Geldern zu unterstützen. Damit fanden wir Verständnis, denn die Bedrohung durch alltäglichen Terror hatte Lüttenberg mit seiner Familie am eigenen Leib erfahren, als Raketen aus dem Gazastreifen ganz in seiner Nähe einschlugen.
Gut portioniert die unverzichtbaren Stationen präsentieren
Heldenhaft kann man daher unsere Gesprächspartnerin Roni Keidar von „The Other Voice“ nennen, die in Netiv haAsara, nur wenige hundert Meter vom Gazastreifen entfernt, lebt. Trotz aller persönlicher Erfahrung mit Vorurteilen gegen sie als Jüdin in Ägypten und dem Hass auf Israelis unter palästinensischen Extremisten, trotz der schrecklichen Momente, in denen sie im Schutzbunker sitzen musste, ist sie weiter als leidenschaftliche Pazifistin um den Dialog mit friedfertigen Menschen aus dem Gazastreifen bemüht, darum, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Zur Sicherheitslage Israels aus Sicht des Militärs hat uns dann Arye Sharuz Shalicar informiert, dazu ebenfalls ein Artikel eines Mitglieds der Reisegruppe.
Naomi Kuperman-Ehrlich, unsere Reisebegleiterin vor Ort, hat es verstanden, gut portioniert die unverzichtbaren Stationen des Landes zu präsentieren: Wissenschaft im Weizman-Institut, Archäologie auf Massada, Erinnerung in Yad Va Shem. Aber auch die Erfahrungen, wie viel Fläche die Wüste ausmacht mit einer aufregenden Jeep-Safari, Wohlfühlmomenten wie baden in einer Quelle und im Toten Meer, Stadtführungen durch die „Weiße Stadt“ Tel Aviv und die ewige Stadt Jerusalem. Ursel und Manfred, die erfahrensten Reisenden der Gruppe, fanden nach der Rückkehr ein schönes Schlusswort: „Wir sind immer noch am Ankommen, aber die Gedanken und das Gefühl gehen immer wieder zurück in die Wärme“.
TEL AVIV – STADT DER GEGENSÄTZE
von Simon Pohl, Vorstandsmitglied der DIG Erfurt
Über den Frühlingshügel, wie Tel Aviv übersetzt heißt, könnte man problemlos tausendundeine Erzählungen schreiben. Hier ragen riesige Hotel- und Wohngebäude in die Höhe, die von den einfachen und funktionellen Bauhaus-Häusern abgelöst werden. Übersichtliche Plätze, die einen weitschweifigen Blick gewähren, sind durch gewundene Straßen und enge Gassen zu erreichen, in denen Waren vom Obst bis zum Gemüse, von Badelatschen bis zu T-Shirts und vom Schmuck bis zum Plunder wohlfeil geboten werden.
Doch nicht nur Augen, Nase und Mund kommen in der „weißen Stadt“ auf ihre Kosten. Man läuft nur einige Minuten den Strand nach Süden, und schon hört man rhythmische Bongomusik, die von einer willkürlich zusammengewürfelten Gruppe erzeugt wird, während zur Rechten heitere Jugendliche im Sand des Strandes zu Technomusik tanzen.
Die vielfältigen Kontraste, die die Stadt im Laufe ihres 104-jährigen Bestehens entwickelte, legen Zeugnis über die Menschen ab, die hier leben. Tel Aviv ist tatsächlich 24 Stunden lang wach. Ob morgens, mittags, abends oder nachts: kein Café , das leer bleibt, keine Wege ohne einen Bürger der sie beschreitet, befährt oder berollt. Der Lifestyle der Tel Aviver, das Flair dieser beispiellosen Stadt, ist ein bunter Mix aus Relaxing, Unternehmungslust und Geschäftigkeit rund ums Überleben.
Der Security-Mitarbeiter muss nebenbei zwei Firmen gründen, um über die Runden zu kommen
Zwar liegt Tel Aviv auf den ersten Plätzen im Bereich Firmengründungen, und kann sich unter anderem auch damit rühmen, von tausenden von Touristen besucht zu werden, die hier ihr Urlaubsgeld freudig ausgeben. Die Kehrseite jedoch wird mir unter anderem von einem Tel Aviver vor Augen geführt, der als Security-Mitarbeiter in unserem Hotel für umgerechnet 4,50 Euro die Stunde arbeitet. Er lebt mit seiner Familie in einer kleinen unscheinbaren Wohnung, die ihn viel Miete kostet, hat insgesamt drei Jobs, ein Start-Up-Projekt, das, wenn überhaupt, erst in den nächsten Monaten Geld abwirft, und ein weiteres Start-Up in Planung.
Diese Situation ist keineswegs eine Ausnahme, sondern stellt leider die Regel dar. Sie war der Grund für die massiven Sozialproteste im ganzen Land und vornehmlich in Tel Aviv von 2011. 2012 nahm die Teilnehmerzahl zwar ab, die Situation aber ist unverändert. Auch Streiks klagen die immer bedrohlicher werdenden Lebensumstände an: Hohe Mieten und Lebenshaltungskosten bei geringer Bezahlung und hohem zeitlichen Aufwand.
Bei all den schlechten Nachrichten wird allerdings eins in Tel Aviv, dem „Eldorado des Jobmarktes“, spürbar: die Israelis sind enthusiastisch und gehören zu jenem Menschenschlag, der aufsteht, statt liegen zu bleiben. In der Wirtschaft zeigt sich beispielsweise eine völlig andere Herangehensweise als in Deutschland: Ein Misserfolg wird nicht als Makel, sondern als Erfahrung gewertet. Wer mit einer neuen Idee um Unterstützung bittet, wird auch wiederholt gefördert! Die wirtschaftlichen Eckdaten sind durchaus positiv: Inflation 2 Prozent, Arbeitslosigkeit 6,5 Prozent. Fazit: Tel Aviv, die Stadt der Gegensätze, kostet die Einwohner viel Mühe, Kraft und Nerven, doch sie lassen es sich gut gehen.
TEL AVIV – STADT DER START-UPS
von Hubert Schulte-Kellinghaus, Mitglied der DIG Duisburg-Oberhausen-Mülheim
Als Wirtschaftsstandort ist Tel Aviv eine außergewöhnlich dynamische Stadt mit einer unglaublich kreativen und sehr jungen Unternehmerschaft. Allein in der Hightech-Szene gibt es rund 600 Start-Ups. Weltweit ist die Stadt damit auf Platz zwei der Unternehmensgründungen nach dem Silicon Valley in den USA.
Starthilfe für junge Kreative, das Herzstück des technologischen „Entrepreneurships“, des hiesigen Unternehmertums und -geistes, bildet aktuell das Projekt „The Library“, geleitet von Avner Warner, „Director of Economic Development“ bei der Tel Aviver Stadtverwaltung. Wer sich einen schnellen Überblick über die israelische Start-Up-Szene verschaffen möchte, kommt an diesem Mann nicht vorbei.
Warner ist verantwortlich für die Formulierung der Strategie, die in Tel Aviv auch weiterhin für Wirtschaftswachstum sorgen soll. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei der Positionierung der Stadt als Drehscheibe für Weltneuheiten. Besonders stolz ist er darauf, dass er das GPS-gestützte Navigationsprogramm und Verkehrsinformationssystem für Smartphones – „Waze“ –, das soeben für 1,3 Milliarden US-Dollar von Google erworben wurde, mitentwickelt hat.
Die Drehscheibe für Weltneuheiten
Gleich zu Beginn unseres Gesprächs überreichte uns Warner eine Broschüre mit dem Titel „How It All Started – Wie alles begann“. Sie zeigt, welch rasante Entwicklung die israelische Mittelmeer-Metropole seit ihrer Gründung am 11. April 1909 vollzogen hat. Heute ist Tel Aviv Sitz großer israelischer Unternehmen.
Und die israelische Wirtschaft befindet sich unvermindert auf Wachstumskurs. Kreativität und „balaganistiyut – Chaos“ sind die Markenzeichen des israelischen Unternehmers. Hier wird keine Idee – sei sie noch so verrückt – verlacht. Das ist ein wesentliches Merkmal der israelischen Gesellschaft. Es fängt damit an, welche Werte Kindern vermittelt werden. Und es geht damit weiter, dass in Israel grundsätzlich Menschen geschätzt werden, die versuchen, Grenzen zu überwinden und Neues zu schaffen. Wenn sie zwischendurch mal scheitern, wird das nicht als Makel, sondern vielmehr als Ausdruck von Beharrlichkeit und Erfahrungsvorteil positiv gewertet.
Unseren Einblick in die israelische Wirtschaftsszene konnten wir im Büro der Israelisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer vertiefen. Geschäftsführer Grisha Alroi-Arloser – seit 2011 ist er außerdem Präsident der Israelisch-Deutschen Gesellschaft – informierte uns darüber, dass aktuell 6.000 deutsche Firmen Geschäfte mit Israel machen, davon befinden sich 35 deutsche Unternehmen im Land. 40 israelische Unternehmen sind in Deutschland aktiv. Die AHK ist erster Ansprechpartner für Israelis, die in Deutschland Geschäfte machen wollen, aber auch für deutsche Investoren, Unternehmer und andere wirtschaftlich Interessierte in Israel.
Verglichen mit uns Deutschen sind die Israelis entscheidungsfreudiger und risikobereiter
Die strategischen Vorteile für deutsche Unternehmen, die mit israelischen Firmen kooperieren wollen, sind immens. Israel hat weltweit die höchste Konzentration an innovativen Talenten. Israelische Firmen sind bekannt für ihre schnellen Innovationszyklen. Verglichen mit deutschen sind sie entscheidungsfreudiger und nehmen eher Risiken auf sich. Israelis und Deutsche verfügen also über Fähigkeiten, die einander ergänzen: die israelische Innovationskraft und die deutsche Fähigkeit zur exzellenten Ausführung von Prozessen.
Wichtigste Komponenten für den Erfolg israelischer Unternehmen sind erstens die Menschen: Israel hat den höchsten Bevölkerungsanteil an Technikern und Ingenieuren weltweit, 24 Prozent aller Arbeitskräfte, 40 Prozent der Neueinwanderer in den 90ern; und eine hervorragende Gründermentalität mit jährlich 800 neuen Start-Ups. Zweitens die Politik: Sie fördert Investitionen im Hightech-Bereich großzügig; 4,3 Prozent des BIP wird für zivile Forschung & Entwicklung aufgebracht. Und drittens das Militär: Defense-Spin-Offs sind eine „Friedensdividende“, Entwicklungen aus dem Militärbereich werden für zivile Zwecke nutzbar gemacht; der Verteidigungssektor ist die „Technologieschmiede der Nation“.
EIN GESPRÄCHSABEND MIT ARYE SHALICAR
von Simon Pohl
Ein Höhepunkt der Israel-Studienreise der DIG Berlin und Potsdam im Juni 2013 war für mich das Treffen mit Arye Sharuz Shalicar, heute einer der Sprecher der israelischen Armee, Zahal. Shalicar ist in Deutschland bekannt geworden durch sein beeindruckendes Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“. Darin schildert der 36-Jährige sein Leben unter arabischen und türkischen Jugendlichen im Berliner Wedding – erst als einer der ihren, dann als verachteter Jude. Heute ist Shalicar Israeli aus Überzeugung und glücklicher Familienvater. Es war beeindruckend, wie offen und humorvoll er die teilweise traumatischen Erlebnisse seiner Jugend mit uns teilte.
Vorher hatte er uns gefragt, ob wir ihn gern in zivil oder in Uniform hätten. Für die Bewunderer der Zahal unter uns war klar: In Uniform. So stand dann nach dem persönlichen Gedankenaustausch auch die aktuelle Sicherheitslage Israels auf der Agenda in Bezug auf das teils schwierige, teils bedrohliche Verhältnis zu den arabischen Nachbarn.
Eine höfliche Frage zu Beginn: in zivil oder in Uniform?
Von den deutschen Medien weitgehend unbeachtet finden weiterhin Attacken gegen Israel statt. Das mobile Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ mindert die Gefahr der Angriffe aus dem Gazastreifen deutlich. Seine Effektivität liegt bei circa 87 Prozent.
Anders sieht es an anderen Krisenherden aus: In der Westbank sind laut dem israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet die Zahl palästinensischer Angriffe Anfang des Jahres, so berichtete die „Jerusalem Post“, noch deutlich angestiegen. Die vom Iran unterstützte Hisbollah, die im Libanon ansässig ist und dort einen großen politischen wie militärischen Einfluss hat, wird laut Shalicar als „ernst zu nehmender Gegner“ wahrgenommen. Zahal beobachtet hier Bewegungen im immensen Raketenarsenal und bei den gut ausgebildeten Kämpfern und auch die steigende Beteiligung der Hisbollah am Stellvertreterkrieg in Syrien zugunsten des Assad-Regimes. All das wird mit wachsender Sorge wahrgenommen.
In diesem Gespräch vor dem Machtwechsel in Ägypten beurteilte Militärsprecher Shalicar die Grenze zu Ägypten als ruhig. Er verwies auf enge Kooperation zwischen dem ägyptischen Militär und den israelischen Sicherheitskräften im Sinne der Vereinbarungen des Friedensvertrages von 1979, um diese Ruhe aufrecht zu erhalten. Auch die Grenze zwischen Israel und Jordanien, beziehungsweise die Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte beider Staaten, funktionierte. Wie es sich nach der seit Juli in Ägypten veränderten innenpolitischen Lage entwickeln wird, bleibt abzuwarten.
Ein Bericht über die Fahrt der DIG Berlin und Potsdam nach Israel vom 14. bis 23. Juni 2013
von Maya Zehden