Aus Anlass des 70. Jahrestages der Reichspogromnacht beteiligte sich die DIG Berlin und Potsdam am Eröffnungskonzert der 8. Potsdamer Vocalwochen „Vocalise“ – veranstaltet vom Trägerverein des Neuen Kammerorchesters Potsdam e.V. und der Landeshauptstadt Potsdam. Schließlich bereicherten mit Ud Joffe, Itamar Ringel, Keren Hadar und Ella Milch-Sheriff vier fantastische israelische Musiker und Komponisten den Abend. Unterstützt wurde die Veranstaltung durch den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg. Mit dem Nikolaisaal im Zentrum der Stadt war nicht nur eine wunderbare Bühne gefunden; auch die Akkustik stand derjenigen im Großen Sendesaal des RBB in Berlin – traditioneller Veranstaltungsort unserer Rabin-Gedenkkonzerte – in nichts nach.
Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden des Trägervereins des Neuen Kammerorchesters Potsdam, Christian Seidel, sprach Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs, zugleich Schirmherr des zweiwöchigen Festivals, zum Publikum.
Unter seinem Leiter Ud Joffe begann das Orchester sein Programm mit dem jiddischen Lied „Maykomashmalon“ („Was bedeutet es?“), instrumentiert von Vladimir Godár. „Maykomashmalon“ – Erinnerung und Gedenken, Nachdenken über Leid und Liebe, die ewige Frage nach dem Sinn, all das kam in diesem besonderen Konzert zum Tragen: „Maykomashmalon“ – ein jiddisches Lied mit dem Text von Avrom Reisen, geb. 1876 in Minsk.
Ud Joffe erzählt noch sichtlich beeindruckt von der unverhofften Begegnung , wie er vor rund drei Wochen mit Bernard San auf die Quellen von „Maykomashmalon“ stieß.
Bewegend vorgetragen wurde es vom langjährigen Kantor der Züricher Jüdischen Gemeinde, Bernhard San. Erst kurzfristig hatte sich seine Mitwirkung als Sänger ergeben – tatsächlich war „Maykomashmalon“ das Lieblingslied seines Vaters gewesen. Danach das „Kaddisch“von Mark Kopytman, geb. 1929 in Kamenets-Podolsk (Ukraine), entstanden 1981 schon in Israel und getragen vom elegischen Klang der Bratsche. Für den Solopart konnte mit Itamar Ringel eine junger, international schon bekannter Musiker aus Israel gewonnen werden.
Ud Joffe und Itamar Ringel nach seinem Beitrag. Auch das Neue Kammerorchester Potsdam war begeistert.
Nach der Pause dann die deutsche Erstaufführung des Stückes von Ella Milch-Sheriff „Schwarz bin ich … eine musikalische Fantasie nach dem Hohelied Salomons“ von der in Haifa geborenen israelischen Musikerin Ella Milch-Sheriff – eine musikalisch wie sprachlich außerordentlich vielschichtige Komposition, die im vergangenen Jahr auf dem Israel-Festival in Tel Aviv uraufgeführt wurde. Gesungen wurde sie von der israelischen Ausnahmesopranistin Keren Hadar, für die das Stück auch geschrieben wurde. 2007 gehörte sie zu den Gewinnern des Musikwettbewerbs Schloss Rheinsberg.
Dieser besondere Abend bot im besten Sinne des Wortes „Weltmusik“, wie sie in dieser Vielfalt wohl nur selten präsentiert wurde.
Presseschau:
Märkische Allgemeine 11. November 2008
VOCALISE: Maykomashmalon
Die Potsdamer Vokalreihe wurde hoch emotional im Nikolaisaal eröffnet
VON MATTHIAS MÜLLER
POTSDAM / INNENSTADT – Der Nikolaisaal war am Sonntagabend sehr gut und prominent besucht. Trafen sich doch zum denkwürdigen 9. November hier das zweite Saisonkonzert der Musik in der Erlöserkirche mit der ebenfalls dort traditionell beheimateten Vokalreihe „Vocalise“. Zum achten Mal in Folge wird in diesem Jahr der interkulturelle Dialog in den Vokalkompositionen der Völker zu Wort kommen.
Die Eröffnung stand im Andenken an die unfassbare Reichspogromnacht vor 70 Jahren. Die von Oberbürgermeister Jann Jakobs als Schirmherr geäußerten nach-denklichen Worte dazu fanden in allen drei Werken ihren musikalischen Widerhall. „Maykomashmalon“, der Titel des Abends, geht auf ein Gedicht des Dichters Avrom Reisen zurück, und das war das Lieblingslied des Vaters vom langjährigen Kantor der Züricher Jüdischen Gemeinde, Bernhard San. Ud Joffe, der Dirigent des Neuen Kammerorchesters, hatte ihn vor erst drei Wochen in Israel getroffen und für den Vortrag dieses wehmütigen, in jiddischer Sprache verfassten Liedes von Vladimír Godár gewinnen können. Nun stand der alte Kantor vor dem Potsdamer Publikum und sang, von einer Solobratsche begleitet und sparsam von den Streichern des Kammerorchesters klanglich eingebettet. Atemlose Stille und andachtsvolles Lauschen. So schnell, wie er erschienen, war Bernhard San wieder entschwunden, ohne den verdienten Beifall genießen zu können. Der Solobratscher, Itamar Ringel, schloss nahtlos das Kaddisch – das große Trauergebet der Juden – in einer eindringlichen, dreisätzigen Bearbeitung von Mark Kopytman an. Der 1929 in der Ukraine geborene Komponist vereinigte sowohl Expressivität als auch Melodienreichtum zu schillernden Klangfarben. Und der samtige Violaton, die kon-zentrierte Leitung Joffes sowie die differenzierte Spielweise der Streicher setzten das Kaddisch in einen tiefen Sinnzusammenhang mit dem 9. November 1938.
Nach der Pause folgte die zuversichtliche Vertonung des „Hohelied Salomos“. Die Deutsche Erstaufführung in Anwesenheit der israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff wurde zur bejubelten Reise durch die Musikgeschichte.
Die menschliche und musikalische Ausstrahlung der Sopranistin, Keren Hadar, das stimmlich geschliffene Sängertrio, der ständige Wechsel der Sprache und die mannigfaltigen Musikstile von der frühen Mehrstimmigkeit bis zum Jazz zeichneten ein Bild von der Liebe nach, die letztlich das Grauen und die Finsternis besiegt. Ein großartiger Konzertabend.
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Potsdamer Neueste Nachrichten 11. November 2008
Das Lied der Lieder
Eröffnung der „Vocalise“ im Nikolaisaal
VON BABETTE KAISERKERN
Mit der Frage der Fragen und dem Lied der Lieder wurde am Sonntag die Potsdamer Vocalise im Nikolaisaal eröffnet. Ud Joffe, spiritus rector der Gesangswochen, offerierte erneut musikalische Schätze abseits der üblichen Konzertprogramme. Tief in der jüdischen Tradition verwurzelt ist die Frage: „Maykomashmalon – Was bedeutet das?“. Wer so fragt, will verstehen, Tiefen ergründen, einen Sinn erkennen. Unzählige Dialoge im Talmud beginnen mit dieser Frage. Sie steht auch am Anfang der modernen Geistes-wissenschaften. „Maykamashmalon“ heißt ein Lied des jiddischen Dichters Avrom Reisen. Glückliche Umstände führten dazu, dass seine poetischen Verse von Bernard San, dem langjährigen Kantor der Züricher Synagoge gesungen wurden. In der zeitgenössischen Vertonung von Vladimír Godár mit dem intimen Dreiklang von Stimme, Viola und Cello ergab dies einen eindrucksvollen Auftakt der diesjährigen Vocalise im Zeichen des interkulturellen Dialogs. Die Suche nach dem Sinn ging unmittelbar in „Kaddish für Viola und Streichorchester“ von Mark Kopytman über. Der in Israel lebende Komponist gibt darin dem jüdischen Gebet eine dreisätzige, gleichwohl rhapsodische Gestalt. Expressive melodische Linien, gelegentlich zunehmende Tempi, sogar mal ein tänzerischer Rhythmus, schroffe Akkorde bilden den dramatischen Hintergrund, vor dem sich die Violastimme von Itamar Ringel leuchtend golden erhebt und fahl verlischt.
Als deutsche Erstaufführung wurde „Schwarz bin ich …“, eine musikalische Fantasie von Ella
Milch-Sheriff nach dem Lied der Lieder aufgeführt. Das etwa im fünften Jahrhundert v. Chr. niedergeschriebene Hohelied der Liebe besteht aus einer Sammlung von Gedichten zumeist in der Ich-Form aus weiblicher und männlicher Perspektive. Ella Milch-Sheriff erzählt eine klar gegliederte Geschichte von Entstehen und Erkennen, Liebe und Verlassensein.
Das speziell auf die israelische Sopranistin Keren Hadar zugeschnittene Werk konzentriert sich auf die weibliche Perspektive. Ein Sängerterzett aus Countertenor, Tenor und Bass übernimmt die Parts des Chores und, selten nur, des Geliebten. Einer der Paten war, wie zu hören ist, der italienische Opernerneuerer und Madrigalist Claudio Monteverdi. Viele Elemente erinnern an seine Werke, speziell an das „Lamento della ninfa“. Ein Streichquartett, drei Bläser, zwei Percussionisten und Klavier offerieren vielfältige Möglichkeiten der Instrumentierung. Orientalische und westliche Rhythmen, traditionelle und moderne Klänge verbreiten multikulturelles Flair. Dennoch dominiert der Eindruck von Geschlossenheit und Harmonie. Wie sollte das Lied der Lieder in unserer Zeit auch klingen, wenn nicht in so vielen verschiedenen Sprachen und Stilen wie hier. Vor allem die junge Sopranistin Keren Hadar verbindet die eklektischen Elemente zu einem überzeugenden Ganzen. Mit ihrer biegsamen, silberhellen Stimme, die sowohl europäischem Operngesang als auch orientalische Laute perfekt beherrscht, verleiht sie den vielseitigen Aspekten der Liebe universellen Ausdruck. Die drei Herren (David Feldman, Countertenor, Eitan Drori, Tenor, Ville Lignell, Bass) bewältigten ihre polyphonen Partien mit höchst ausgewogenem Gesang. Das kleine Orchester spielt unter der inspirierten Leitung von Ud Joffe brillant und klangvoll. Gemeinsam mit den Sängern gaben sie so eine höchst harmonische Antwort auf die Frage der Fragen. Die Antwort lautet wie eh und je: Zusammenspiel, Hingabe, Liebe.
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