Ohne sie geht auf dem Globus nichts mehr

Richard Herzinger in der Welt am Sonntag vom 01.01.2012

Richard Herzinger sieht den weltweiten Aufbruch der Frauen als zentrales Ereignis der Gegenwart. Denn er ist die größte Herausforderung für Despotien jeder Art – und sein Erfolg Bedingung humanen Fortschritts

Die „Frauenfrage“ sei ein „Nebenwiderspruch“ im großen historischen Prozess, hieß es einst in der linken Dogmatik. Auch in diesem Punkt hat die Wirklichkeit die marxistische Geschichtsreligion Lügen gestraft. Denn der Aufbruch der Frauen ist heute das entscheidende revolutionäre Element in der sich zuspitzenden globalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Despotie.

Wie an einem Präzisionsmessgerät lassen sich gesellschaftlicher Fort- und Rückschritt an dem Umgang mit dem massiv wachsenden Anspruch der Frauen auf Gleichberechtigung und aktive Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten ablesen. In Ägypten erregten jüngst sadistische Übergriffe von Soldaten gegen demonstrierende Frauen weltweite Empörung. Nachdem sogar US-Außenministerin Hillary Clinton dagegen lauten Protest erhob, sah sich der herrschende Militärrat zu einer Entschuldigung genötigt. Diese Ereignisse haben in doppeltem Sinne symbolische Bedeutung: Die massiven Bestrebungen der alten Macht, den Freiheitsimpuls der ägyptischen Rebellion zu ersticken, kulminieren in dem Versuch, Frauen gewaltsam aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben. Doch die Übergriffe haben erst recht deren Protestbereitschaft stimuliert, und ihr Aufschrei zwang den Militärrat erstmals zum – zumindest verbalen – Zurückweichen. Dass die Entschlossenheit der Frauen, nicht nur den Kampf für die eigenen Rechte, sondern für die Neugestaltung der Gesellschaft insgesamt in die eigenen Hände zu nehmen, selbst in einem arabischen Land nicht mehr ohne Weiteres zu brechen ist, zeigt die Wucht des globalen weiblichen Aufbegehrens. Das gilt sogar, wenn hinter den wütenden Protesten meist mit Kopftuch bedeckter ägyptischer Frauen auch islamistische Organisationen stecken sollten, die eine Chance zur Schwächung des Machtmonopols der Armee wittern.

Dass sogar Islamisten zunehmend Frauen vorschicken, um zu suggerieren, sie befänden sich auf der Höhe der Kernfragen der Gegenwart, zeugt indirekt davon, dass sich der feministischen Druckwelle niemand mehr entziehen kann. Dabei zeigt sich die Rückständigkeit arabischer (und anderer islamischer) Gesellschaften in nichts so deutlich wie in der fortgesetzten Diskriminierung, wenn nicht Versklavung der Frau. Keine andere Auseinandersetzung ist daher für die Zukunft arabischer Freiheitsbestrebungen so zentral wie diese: Ohne volle rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter bleiben sämtliche Demokratisierungspläne in der Region Makulatur. Dabei ist die Anerkennung der weiblichen Selbstbestimmung über den eigenen Körper – und das heißt: über die eigene Sexualität – das ultimative Tabu patriarchalischer Herrschaft. Als sich kürzlich eine ägyptische Bloggerin nackt im Internet zeigte, zog sie nicht nur den Hass religiöser Fanatiker, sondern auch die Empörung säkularer, „liberaler“ Kreise auf sich.

Die demokratische Revolution kann daher nur vollendet werden, wenn sie mit der sexuellen Revolution einhergeht. Diktaturen überall auf der Welt erkennen das und zielen mit ihrer Repression auf die sexuelle Entwürdigung der Frau. In Weißrussland entführten und misshandelten Schergen des Geheimdienstes jüngst drei Aktivistinnen der Feministinnengruppe Femen, deren Spezialität es ist, ihrem Protest mit entblößtem Oberkörper Nachdruck zu verleihen. Nach einer Protestaktion gegen den Diktator Lukaschenko in Minsk wurden die Frauen abgefangen, mit brennbaren Flüssigkeiten übergossen und bei Minusgraden nackt im Wald ausgesetzt.

Die Angst vor der Befreiung der Frau und vor dem Verlust der Kontrolle ihrer Sexualität ist der Glutkern fundamentalistischen Hasses gegen die enthierarchisierte, leichtlebige Moderne. Er lodert keineswegs nur in der islamischen Welt und in rückständigen, autoritär regierten Staaten. Ultraorthodoxe Extremisten in Israel verschärfen neuerdings ihren erbitterten Kampf gegen die Säkularisierung, indem sie militant wider die gleichberechtigte Präsenz von Frauen im öffentlichen Raum zu Felde ziehen. So versuchen sie, mittels physischer Einschüchterung Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln durchzusetzen. Die säkulare israelische Gesellschaft ist alarmiert – jedoch auch stark genug, sich gegen diesen Angriff auf die Grundfesten einer freiheitlichen Demokratie zur Wehr zu setzen. Recht und Gesetz sind in Israel auf der Seite der Frauen, und sowohl Staatspräsident Schimon Peres als auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärten wiederholt kategorisch, die israelische Demokratie werde keinerlei Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen dulden. Doch die israelische Erfahrung mahnt, dass es selbst in hoch entwickelten, westlich-modern geprägten Ländern keine absolute Sicherheit vor dem Wiederausbruch archaischen Wahns gibt.

Nicht etwa, weil sie bessere Menschen wären, hängt die Zukunft der demokratischen Zivilisation heute vom erfolgreichen Voranschreiten der Frauen ab. Und auch nicht, weil die in großen Teilen der Welt fortgesetzte Unterjochung, Verfolgung, Erniedrigung und Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts schlimmer und empörender wäre als Gewalt und Diskriminierung gegen Menschen unter rassischem, ethnischem oder religiösem Vorwand. Die besondere Brisanz der Frage nach der Stellung der Frau besteht vielmehr darin, dass die Hälfte der Menschheit weiblich ist – ihr in vielen Regionen der Welt die vollwertige Zugehörigkeit zur Menschheit aber nach wie vor abgesprochen wird. Rassismus und andere Formen kollektiven Menschenhasses sind auf dem Planeten nicht weniger endemisch – doch offiziell umfassend geächtet. Im Falle der Frauen dagegen werden immer noch „kulturelle“ oder „religiöse“ Begründungen herangezogen, um ihre Herabsetzung zu rechtfertigen oder gar als ethisch geboten zu propagieren – so, wenn es in muslimischen Ländern heißt, Ausgehverbote und Verschleierungszwang für Frauen in der Öffentlichkeit dienten dem Schutz ihrer Würde.

Wenn eine Menschengruppe jedoch noch immer aufgrund ihrer Biologie in eine gesonderte Kategorie minderen Selbstbestimmungsrechts eingeordnet wird, kann dies nicht länger hingenommen werden, wo doch der universalistische Gedanke im Zeichen der Globalisierung auf anderen Feldern weltweit längst unbestritten ist. Dass der Grad der weiblichen Emanzipation von männlicher Fremdbestimmung, wie er in westlichen Demokratien erreicht wurde, als Maßstab für den Rest der Welt zu gelten hat, ist keineswegs Ausdruck von „Kulturimperialismus“. Denn ein „Selbstbestimmungsrecht“ der Frau mit von vermeintlichen Traditionen festgelegten Einschränkungen ist nun einmal keines. Die in Gang gekommene globale Dynamik der Frauenrechtsbewegung wird solche Begrenzungen daher früher oder später sprengen. In eigener Sache agieren Frauen heute als Avantgarde der ganzen, einen Menschheit. Bevor sie nämlich ihre Ziele nicht erreicht haben, kann von einer solchen noch gar keine Rede sein.

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