Welt-Korrespondent Richard Herzinger sprach am 31. Januar 2013 im Jüdischen Gemeindehaus über Israel nach der Wahl. Eine gemeinsame Veranstaltung mit der Jüdischen Volkshochschule, dem Middle East Freedom Forum Berlin und der Konrad-Adenauer-Stiftung
von Isabel Murray
Es war eine kurzfristige Zusage: Dr. Richard Herzinger, politscher Korrespondent der Welt-Gruppe, hatte sich spontan bereit erklärt, für den plötzlich erkrankten Referenten Eldad Beck einzuspringen, wofür ihm Sigalit Meidler-Waks, die Leiterin der Jüdischen Volkshochschule, zum Auftakt der sehr gut besuchten Abendveranstaltung herzlich dankte.
Herzinger verwies in seinem einleitenden Vortrag zum Thema „Israel nach der Wahl“ darauf, dass es aufgrund der Vielzahl der Parteien, die am 22. Januar 2013 in die 120 Sitze umfassende Knesset gewählt wurden, schwieriger denn je werde, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Doch gerade in dieser Situation zeige sich, dass Israel, entgegen den Befürchtungen manches „Israelkritikers”, eine ausgesprochen lebendige Demokratie sei.
Der Verlust von 11 Mandaten im konservativen Likud-Beitenu-Bündnis unter der Führung des Regierungschefs Benjamin Netanjahu mache sehr deutlich, wie offen und kontrovers die israelische Gesellschaft über ihren künftigen Weg streite. Der überraschende Aufstieg der liberalen Partei, Yesh Atid („Es gibt eine Zukunft“) zur zweitstärksten Kraft, manifestiere die säkulare Gegenwehr gegen die Anmaßungen ultraorthodox-religiöser Kräfte und reflektiere darüber hinaus auch den Widerstand der Mittelschichten gegen ihre drohende Verarmung. Yesh Atids prominenter Gründer, der in Israel überaus beliebte Medienstar Yair Lapid, habe, so Herzinger, außenpolitisch keine detaillierten Schwerpunkte, sondern konzentriere sich mit innenpolitischen Themen eher auf die Bewältigung der sozioökonomischen Probleme des israelischen Mittelstands. Das Wahlergebnis mache somit auch deutlich, dass im Wahlkampf in erster Linie die sozialen Schieflagen – nicht jedoch der Konflikt mit den Palästinensern oder die Bedrohung durch den Iran – die Hauptrolle gespielt haben und folglich das Mitte-Links-Lager mit 19 Mandaten gestärkt wurde. Inwiefern sich die Yesh Atid-Partei des israelischen „George Clooney“ mit ihrem Programm politisch werde durchsetzten können, lasse sich gegenwärtig allerdings nicht voraussehen.
Es lässt sich noch nicht voraussehen, ob sich Israels „George Clooney“ durchsetzen wird.
Trotz mancher sozialer Verwerfungen könne Israel jedoch durchaus zuversichtlich in die Zukunft sehen, denn seine innovative und dynamische Wirtschaft hätte weiterhin beachtliche Wachstumsraten. Richard Herzinger ist der Auffassung, dass es in Israel kein Wachstums-, sondern ein Verteilungsproblem gäbe, da nicht nur die sozial Schwachen, sondern auch die Mittelschichten, unter extrem hohen Lebensmittel- und Mietpreisen zu leiden hätten.
Auch außenpolitisch sei die Lage für Benjamin Netanjahu nicht einfacher geworden. Mit Blick auf die knappe Mehrheit von Likud-Beitenu und dem rechten Lager wäre eine stabile Regierungsbildung mit nur einer Stimme Mehrheit kaum denkbar. Netanjahu werde zwischen den Kräften, die auf Verhandlungen über eine Zwei-Staaten-Lösung drängten – repräsentiert vor allem durch die, von der ehemaligen Außenministerin Tzipi Livni geründete, Partei HaTnuah („Die Bewegung“) – und der nationalreligiösen Partei HaBait haJehudi („Das jüdische Zuhause“) unter dem Vorsitz Naftali Bennett lavieren müssen. Naftali Bennett, der sich als strenger Verfechter der nationalreligiösen Siedlerbewegung exponiere und die Annexion großer Teile des Westjordanlandes fordere, habe Netanjahus Bündnis – mit einer Mandatssteigerung in der Knesset von 7 auf 12 Sitzen – massiv Stimmen abgenommen, die dieses nun in irgendeiner Weise zurück gewinnen müsse. Richard Herzinger vermutet, dass Netanjahu eine Koalition mit Lapid, Livni und den Resten der Kadima, unter Einbeziehung der orthodoxen Schas-Partei anstreben werde. Auch wenn man sich als Außenstehender nur schwer vorstellen könne, wie solche Gegensätze unter einen Hut zu bringen seien, insbesondere weil sich die stark marktwirtschaftlich orientierte Partei Lapids und die Schas-Partei nicht nur im Streit um die Stellung der Religion, sondern auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht, unterschiedlich positionierten.
Israel muss seine Gründungsidee säkularen Entwicklungen anpassen.
Für Israel als modernen demokratischen Staat mit multikultureller Bevölkerung gelte es in Zukunft umso mehr, seine Gründungsidee den weltweit voranschreitenden säkularen Entwicklungen anzupassen. Der Konflikt, in welchem Maße es sich als säkularer Staat verstehen wolle, oder inwieweit es auf religiösen Grundlagen basieren solle, spitze sich in der Auseinandersetzung über die Verweigerung des Militärdienstes durch die Ultrareligiösen zu. Diese ließen sich ihren Kinderreichtum und ihre religiösen Einrichtungen staatlich subventionieren, lehnten aber Gegenleistungen für den von ihnen letztlich nicht anerkannten weltlichen, zionistischen Staat ab. Dass es Netanjahu nicht gelungen sei, diesen Zustand zu ändern, habe ihn, nach Ansicht Herzingers, erheblich Stimmen gekostet. Denn die Forderung aus der Gesellschaft würde immer lauter, dass auch die Ultraorthodoxen entweder Wehrdienst oder einen zivilen Ersatzdienst leisten müssten. Dasselbe würde im Übrigen jedoch auch für die israelischen Araber gelten. Es sei eine der großen Herausforderungen für die israelische Gesellschaft, so Herzinger, diese – mit gleichen Rechten und Pflichten und einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Idee – stärker in die israelische Gesellschaft zu integrieren.
Wie auch immer sich die neuen Regierungsbündnisse gestalten würden, die zukünftige Koalition müsse weiterhin mit sicherheitspolitischen Entscheidungen auf die unkalkulierbaren, oft eruptiven politischen Entwicklungen in den Nachbarländern und im Nahen Osten reagieren. Große Spielräume jenseits der bisherigen Linie der Netanjahu-Regierung gäbe es, laut Richard Herzinger, für die israelische Außenpolitik deshalb kaum, jedenfalls nicht in der Substanz, sondern allenfalls in der Rhetorik. Eine neue Regierung könne die Palästinenserführung in Ramallah eventuell stärker hofieren und unterhalb der Ebene eines Friedensabkommens noch stärkere Zusammenarbeit mit ihr suchen, unter anderem durch Zurückstellung von Siedlungsbauten.
Da Herzinger gerade nicht davon ausgeht, dass es in den nächsten Jahren zu finalen Friedensreglungen zwischen Israel und einem zukünftigen palästinensischen Staat kommen würde, plädiert er für eine pragmatische Kooperation von Israelis und Palästinensern jenseits der großen ideologischen Auseinandersetzungen im Zusammenleben und bei Alltagsgeschäften, zum Beispiel beim Ausbau israelischer und palästinensischer Startup-Unternehmen. In Europa allerdings dominiere bis heute der übermächtige Wunsch, sich den maroden palästinensischen Scheinstaat im Westjordanland schönzureden, ohne zu erkennen, dass die palästinensische Fatah nur davon lebe, dass es einen ideologisch hoch aufgeladenen Nahostkonflikt gäbe.
Auf die Frage Jochen Feilckes, des Vorsitzenden der DIG Berlin und Potsdam, wie Richard Herzinger die gegenwärtigen chaotischen Verhältnisse in den arabischen Nachbarländern einschätze, antwortete dieser, dass Israel voraussichtlich noch die nächsten zehn bis zwanzig Jahre erhebliche Umwälzungen in den Nachbarstaaten – sei es in Syrien, Ägypten oder zukünftig vermutlich auch in Jordanien – durchstehen müsse. Herzinger ist grundsätzlich der Auffassung, dass wir uns im „Zeitalter der Säkularisierung“ befänden, in dessen Folge weltweit starke Gegenreaktionen ausgelöst würden, die meist nur vordergründig religiös motiviert seien. In Wahrheit agierten oft organisierte Verbrecherbanden, die mit der Religion ihre rücksichtlosen Menschenhandel- und Drogengeschäfte zu bemänteln versuchten.
Muss Israel zehn Jahre Umstürze in der arabischen Welt abwarten?
Derzeit werde jede israelische Regierung in einer Umgebung gewalttätiger Umstürze abwarten müssen, ob Fatah und Hamas mit ihren neuerlich verkündeten Einigungsbemühungen Ernst machten. Eine solche gemeinsame Front der – in Europa hartnäckig als „gemäßigt“ eingestuften – Fatah mit den Radikalislamisten, wie man sie von Seiten der islamistischen Regierung in Kairo zwecks Einkreisung Israels anstrebe, würde ernsthafte Friedensgespräche wohl auf lange Dauer unmöglich machen.
In Syrien habe die internationale Staatengemeinschaft mittlerweile die Chance verpasst, zu einem Zeitpunkt zu intervenieren, als die syrische Protestbewegung noch friedlich demonstrierte und Syriens Bevölkerung noch nicht dem Einfluss der erstarkenden djihadistischen Kräften ausgeliefert war. Inzwischen sei der westlichen Staatengemeinschaft die Situation, in der ein Stellvertreterkrieg zwischen dem proiranischen Assad-Regime und den sunnitischen Kernmächten wüte, völlig entglitten. Aktuell müsse Israel verhindern, dass Waffen aus dem Arsenal Assads zur Hisbollah nach Libanon geschafft werden. Der bislang nicht bestätigte Angriff der israelischen Luftwaffe auf einen Waffentransport Richtung Libanon und auf ein militärisches Forschungszentrum in Syrien folgen dieser Logik.
Neben Syrien drohe auch Ägypten zunehmend zum Tummelplatz für den djihadistischen Terrorismus, bzw. zum Durchgangsland für Waffenlieferungen an die Hamas und Hisbollah zu werden. Wo vor zwei Jahren auf dem Tahir-Platz der ‚Arabische Frühling‘ zu erblühen schien und die Weltöffentlichkeit fest daran geglaubt hatte, dass dieser direkt in ein demokratisches ägyptisches Staatswesen führen würde, sei die heutige Regierung Mursis nicht Willens oder in der Lage, salafistische, terroristische Aktivitäten zu unterbinden. So drohe Ägypten zur Drehscheibe für Djihadisten aus aller Welt zu werden.
Während westliche Israelkritiker weiterhin meinten, Israel müsse sich der dortigen Demokratie gegenüber öffnen, erkläre Ägypten Antisemitismus zur Staatsraison. So sieht Herziger denn auch in der Tatsache, dass der ägyptische Präsident Mohammed Mursi ausgerechnet am 30. Januar zum Staatsbesuch nach Berlin anreiste, während im Bundestag die Gedenkfeier zum internationalen Holocaust-Gedenktag stattfand, eine äußerst zweifelhafte Koinzidenz. Genauer nachzulesen auch in Richard Herzingers Welt-Kommentar „Syrien und Ägypten auf dem Weg zu failed states“.
Ein weiteres zentrales Ziel für die zukünftige Regierung Israels sei es, den Iran vom weiteren Bau einer Atombombe abzuhalten, auch wenn es für den Ministerpräsidenten nach den jüngsten israelischen Wahlen nun schwieriger werde, einen israelischen Militärschlag gegen Iran durchzusetzen. Es weise, laut Herziger, alles darauf hin, dass die Vereinigten Staaten – wenn sie nicht bereits damit begonnen hätten – ab Frühsommer dieses Jahres, nach dem Ende der Amtszeit von Präsident Mahmud Ahmadinedschad, in intensive Geheimverhandlungen mit dem iranischen Regime eintreten würden, um dieses von der Entwicklung einer Atombombe abzubringen.
Ab Herbst 2013 ist mit einem US-Militärschlag gegen die Iran zu rechnen.
Auch wenn die jüngsten Anzeichen nicht dafür sprächen, dass US-Präsident Barack Obama zu einem Militärschlag bereit wäre, sei ab Herbst dieses Jahres damit zu rechnen, dass Washington die militärische Option in Erwägung zöge oder gar zum Einsatz bringen könnte, sofern die Verhandlungen zu keinem von den USA erwünschten Erfolg führen sollten. In Obamas Rede zu seiner Amtseinführung als Präsidenten der Vereinigten Staaten habe es allerdings keine Bemerkung über die globale atomare Gefahr seitens des iranischen Regimes gegeben. Stattdessen habe Obama, so Herzinger, über Friedenspolitik doziert und sogar den Terminus „peace in our time“ benutzt, mit dem einst der britische Premier Neville Chamberlain („peace for our time“) seine Appeasement-Politik gegenüber Hitler beschönigte. Den aktuellen Bezug dieser historisch belasteten Formulierung hat Richard Herzinger in dem Welt-Artikel „Ein Weltkrieg“ im Kontext der gegenwärtigen weltpolitischen Konfliktlage analysiert.
Doch unabhängig von den offiziellen Verlautbarungen des US-Präsidenten Obama und den fortwährenden Mutmaßungen, wie das Verhältnis zwischen Obama und der Regierung Netanjahus en détail aussehe, sei die militärische Unterstützung der USA beim Aufbau zweier Raketenabwehrsysteme weiterhin unerlässlich. Generell könne man sagen, dass die militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen Israel und den USA intensiver denn jemals zuvor in der Geschichte beider Staaten stattfände. Diese sei, so Herzinger, eine absolut notwendige Voraussetzung dafür, dass Israel die nachbarstaatlichen Umstürze in den kommenden Jahren überstehe.
Jochen Feilcke zeigte sich im Anschluss an die lebhafte Diskussion mit dem Publikum beeindruckt von den politischen Positionen Herzingers, die man in dieser deutlichen Form weder von einem deutschen Politiker, noch von israelischen Diplomaten würde erwarten können.