Die Siedlungspolitik in Jerusalem ist kompliziert und vielschichtig. Beide, Palästinenser wie Israelis, betreiben eine gezielte Siedlungspolitik mit der ausdrücklichen Absicht, die Anderen auszustechen, zu stoppen oder zu umzingeln. „Saladin errichtete Festungen rund um die Stadt, nachdem er die Kreuzfahrer aus dem Land geworfen hat, um Jerusalem zu sichern“, berichtet ein Palästinenser in Silwan, einem Stadtviertel Jerusalems südlich des Tempelbergs um sich im gleichen Atemzug über einen von den Israelis seit 1967 errichteten „Siedlungsring“ rund um Jerusalem mit dem gleichen Ziel zu beschweren. Das moderne Silwan wurde im neunzehnten Jahrhundert von jemenitischen Juden gegründet. Die wurden bei arabischen Pogromen 1929 vertrieben. Inzwischen ist Silwan ein dicht bebautes arabisches Viertel an einem Abhang gegenüber der „Stadt Davids“, dem Ur-Jerusalem. Kaum ein Haus wurde mit einer Baugenehmigung errichtet. Inzwischen kamen rechtsradikale Israelis, kauften heimlich oder offen Häuser der Araber und errichteten –
ebenfalls ohne Baugenehmigung – mitten in Silwan ein siebenstöckiges Hochhaus. An dessen Fassade hängt demonstrativ eine 20 Meter lange Flagge mit dem Davidstern. Moslems bemalten ebenso demonstrativ ihre Garagentüren mit Abbildungen der Kaaba von Mekka. Während israelische Ankündigungen des Baus neuer Wohnungen im „Siedlungsring“ rund um Jerusalem für palästinensische Verbitterung und internationale Entrüstung sorgen, verbauen die Palästinenser biblische Stätten und unberührte Täler und Hügel bis weit in die judäische Wüste hinein, vermeintlich planlos und doch mit System. Die Palästinenser boykottieren die Stadtverwaltung, weil die israelische Besatzung „völkerrechtlich illegal“ sei, erklärt ein palästinensischer Aktivist in einem „Informationszelt“ nahe Silwan.
Vor einem halben Jahr stand das von den Israelis enteignete Shephards Hotel im „Weingarten des Mufti“ im Mittelpunkt einer internationalen Kontroverse. Das Gebäude gehörte einst Hadsch Amin el Husseini, der als Freund Hitlers in Bosnien eine muslimische SS-Truppe schuf und die Nazis bei der Judenvernichtung unterstützte. „Die Erbin, eine Tochter des Mufti, lebt heute in Saudi Arabien. Sie kann nicht nach Israel reisen, um ihr Eigentum zu reklamieren, weil sie bei ihrer Rückkehr von den Saudis verhaftet würde“, erzählt Salim. Er raucht eine Zigarette unter einem von den Briten gepflanzten Bitterorangen-Baum im einst romantischen Vorhof des Hotels, seinem früheren Arbeitsplatz. Die Jordanier hätten während ihrer Besatzung Jerusalems zwischen 1949 und 1967 das Grundstück zu „verlassenem jüdischem Eigentum“ erklärt und deshalb zum „Kronland“ deklariert. Jordanien hatte sein Territorium „ethnisch gesäubert“. Als „Staatsland“ ging es 1967 in israelische Verwaltung über.
Wenige Straßen weiter sitzt Nasser al-Ghawi unter einer Zeltbahne auf einem zerschlissenen Sofa auf dem Bürgersteig. Seine in einen langen schwarzen Mantel gehüllte Frau macht Hausaufgaben mit ihren fünf kleinen Kindern, während al-Ghawi sein Leid klagt. Einige Monate zuvor hatte er von einem israelischen Gericht den Räumungsbefehl erhalten. Der „Rat sephardischer Juden“ hatte erfolgreich das Grundstück seines Hauses eingeklagt. Al-Ghawi musste mit seiner Familie auf den gegenüberliegenden Bürgersteig ziehen, während ultraorthodoxe Juden mit vielen Kindern sein Haus bezogen. „Die Jordanier hatten die ganze Straße zum Kronland erklärt und der UNO übergeben, um hier ein Flüchtlingslager zu errichten“, erzählt al-Ghawi. Er bestätigt Samirs Darstellung am Shephards Hotel. Die UNO baute ein billiges Haus und übergab es Anfang der fünfziger Jahre an al-Ghawi. Anstelle einer Miete musste er nur drei Jahre lang die Kosten des Hausbaus abstottern.
Während al-Ghawi abwechselnd in schlechtem Englisch und gutem Hebräisch seine Geschichte erzählte, kam eine „Solidaritätsdelegation“ norwegischer Gewerkschaftler vorbei. Nach einem kurzen Anblick der „schrecklichen israelischen Verbrechen an Palästinensern“ wurden sie von ihren palästinensischen Begleitern im Minibus zum nächsten Ortstermin gefahren.
Al-Ghawi gab sich Mühe, die Ungerechtigkeit der Israelis darzustellen, bis er sich schließlich „verplapperte“. Am Ende erzählte er, dass tatsächlich vor 120 Jahren ein arabischer Olivenbauer 18 Hektar Land rund um das Grabmal von „Simon dem Gerechten“ dem „Rat der sephardischen Juden“ verkauft habe. Dieser bis heute existierende Rat konnte mit alten Dokumente das Gericht von seinen Ansprüchen überzeugen, während al-Ghawi, als Bewohner eines von der UNO auf beschlagnahmten jordanischen Kronland, keine Ansprüche auf das Grundstück vorweisen konnte.
Seit einigen Wochen nun versammeln sich an jedem Wochenende linksgerichtete Israelis wie der Schriftsteller David Grossmann, Friedensaktivisten und Palästinenser vor jenem inzwischen von national-religiösen Juden bezogenen Haus al-Ghawis, um gegen den „ungerechten Gerichtsbeschluss“, gegen den Rauswurf der arabischen Familie und vor Allem, gegen die „Provokation rechtsradikaler Siedler“ zu protestieren, mitten in einem „rein arabischen Viertel“ im „illegal besetzten Ostjerusalem“ Wohnung bezogen zu haben. Im Rahmen der „freien Meinungsäußerung“ genehmigen Gerichte die Demonstrationen, während sich die Polizei sich zunehmend schwer tut, Gewaltausbrüche unter Kontrolle zu halten. Für die Hintergründe des Grundstückstreits interessiert sich niemand mehr.
Ulrich W. Sahm
http://www.usahm.de/Sahm/Jerrach/page_01.htm